Sonntag, 2. November 2014

Schein oder Sein

 1

Der alte Priester, hatte mit seinen beiden Ministranten, ausgerüstet mit Weihwasser und Wedel, das offene Grab freigegeben – es folgte in langem, sich rasch bewegendem, schwarzem Gänsemarsch das Trauervolk – am Ende schließlich die engsten Angehörigen des Verstorbenen, jeweils eine einzelne Rose in die dunkle Grube werfend. Fritz beobachtet die Szene distanziert und obwohl er nicht zum innersten Kreis der dem Verstorbenen nahe stehenden Personen gehörte, so verpasste er es doch, ob all der Gedanken, die ihm durch den Kopf schwirrten und so gar nichts mit einer Bestattung zu tun hatten, sich den Trauergästen bei ihrer letzten Ehrerbietung vor dem Grab anzuschließen. Plötzlich stand er ganz alleine da und selbst der letzte Großneffe mit seinem kleinen Sohn, er mochte vielleicht zwei Jahre alt gewesen sein, hatte bereits die Stätte verlassen, als er sich endlich dem Erdhaufen näherte, der neben den frischen hellen Brettern aufgetürmt war, die dafür sorgen sollten, dass niemand – vorzeitig – in die Grube fallen sollte. Der Grabstein war bereits angefertigt worden und lehnte am vom Regen durchnässten Erdhaufen. Mit goldenen Lettern war auf dem polierten dunkelgrauen Grund zu lesen: „Alexander von Stein: 1917 – 2014“ und in der Zeile darunter „Es spielte und gewann“. Fritz konnte sich ein Schmunzeln ob dieser Worte nicht verkneifen. Dieses verstummte jedoch sogleich, als seine Augen auf eine kleine Figur aus schwarzem Marmor fielen, das auf einem kleinen Podest direkt vor dem Grabstein stand und offenbar zu dem Gesamtensemble gehörte: Der Sensenmann war da zu sehen mit höhnischem, grotesk verzerrtem Grinsen, den Betrachter direkt in Augenschein nehmend, kaum höher als die Laterne, die eine brennende rote Kerze beherbergte. Neben seinem eisernen Schnittgerät stach ein Stundenglas heraus, das aus zwei aufeinander geschweißten Glaszylindern bestand in denen sich feinkörniger weißer Sand befand. Der Grabstein hatte etwas seltsam Unzeitgemäßes an sich; Fritz glaubte sich in die Gruft einer barocken Kirche versetzt in eine Zeit in der das Leben noch intensiv-üppig genossen wurde und man sich über den Tod noch keine Illusionen machte. Schrecklich und unheimlich war der Anblick und ergriff ihn mehr als alles, was er lange Zeit erlebt hatte; es schien ihm, als ob brodelnde Lava aus dem Zentrum seines Herzens hervorquoll und doch gleichzeitig sein ganzer Körper zu Eis erstarrte.

Wie anders sah da doch das weiße Nachbargrab aus, das in romantischer Verklärung einen zierlichen Engel mit allzu menschlichen Zügen zeigte, der einen Verstorbenen, der wie ein Schlafenden wirkte, mit zärtlicher Aufmerksamkeit und filigranen, sanft streichelnden Händen im Paradies empfing. Fritz’ Blick schweifte wieder zum Sensenmann herüber. Er musste wohl eine ganze Weile so verharrt haben, denn plötzlich riss ihn ein kräftiges Räuspern aus seiner inneren Versenkung. Der Totengräber, den rechten Fuß auf seine Schaufel abgestützt und mit diesem wippend, sah ihn mit ungeduldigem Blick an; er schien schnell seine Arbeit verrichten zu wollen, um bald Feierabend machen zu können; schließlich war die Beerdigung auf den frühen Abend verlegt worden, damit sich die Trauergäste nicht extra von ihrer Arbeit frei nehmen mussten. Einen Augenblick zögerte Fritz noch, spritzte dann noch einmal Weihwasser mit dem Reisigzweiglein, das er die längste Zeit zwischen Daumen und Mittelfinger gehalten hatte, auf das Grab und verließ dann langsamen Schrittes den Gottesacker. Erst als er durch das kleine quietschende, leicht rostige Gatter, den Friedhof verließ, bemerkte er, dass der Regen aufgehört hatte und sich zwischen den Wolken zaghaft die Sonne  durchzuschieben anschickte.

 

 

2

„Sehen Sie sich diesen Beitrag an – in Pakistan scheint sich wieder etwas zu tun“, mit diesen Zeilen begann die erste Mail, die Fritz noch vor dem Frühstück las. Wie gewöhnlich kam er auch nicht dazu außer einem Croissant und einem viel zu heiß geschlürften Kaffee etwas zu sich zu nehmen. Im Büro war bereits kurz nach halb acht die Hölle los gewesen, da irgendwo im Mittleren Osten ein Bombenanschlag größeren Ausmaßes mit dutzenden Toten verübt worden war. Im Sender war man es gewohnt über gewöhnliche Anschläge, worunter Anschläge bei denen „lediglich“ eine Handvoll Menschen ums Leben kamen, monoton und in wenigen Sekunden zu berichten, doch das heutige Tagesereignis gehörte doch in eine andere Kategorie und machte aufwendigere Arbeiten notwendig. Die 11-Uhr-Nachrichten sollten damit ausgefüllt werden und Fritz, der beliebte Fernsehsprecher, würde die „Ehre“ haben die Nation zu schockieren. Es gab zwar inzwischen erste Bilder von den Verwüstungen in einem Einkaufzentrum, Sirenengeheul, wild umher irrende Menschen – doch gesicherte Informationen waren spärlich. Trotzdem war den Medienprofis klar, dass es sich dabei um einen erneuten Anschlag einer berüchtigten Terrorgruppe handle, auf deren Konto schließlich auch beinahe alle anderen Anschläge der letzten Zeit gehen sollten. Es wurde sogleich aus den Archiven Bild- und Videomaterial des Anführers der Gruppe und seiner engsten Vertrauten ausgegraben und mit entsprechenden „scharfen“ Texten kommentiert. Der Psychologe des Senders hatte ganze Arbeit geleistet, hatte er doch früher für die Kriminalpolizei gearbeitet, musste jedoch, nachdem es zu diversen „Meinungsverschiedenheiten“ und einigen „Zwischenfällen“ gekommen war, dort seinen Abschied nehmen. In der Folge hatte er bei dem TV-Sender angeheuert, der nun stolz darauf war einen „Gewalt- und Terrorexperten“ in seinen Reihen zu haben. Tatsächlich war der Sender der erste, der scheinbar über Hintergrundmaterial zu den Bombenanschlägen verfügte. Die 11-Uhr-Nachrichten erreichten die höchsten Einschaltquoten seit einem halben Jahr, als in einem nahen Bergwerk über 50 Kumpels verschüttet worden waren.

„Ich liebe unsere Branche – only bad news are good news!” meinte Clarissa, Fritz’ junge Assistentin und goss die dritte Tasse starken Kaffee ihre Kehle hinunter, nachdem sie ihrem Chef zu seinem Auftritt gratuliert hatte. Seltsamerweise war Fritz von der Kaltschnäuzigkeit, mit der sie dies gesagte hatte, schockiert. Etwas das ihn umso mehr verwunderte, da er diesen Slogan nur allzu selten selbst benutzte. Aus dem Mund anderer hört sich manches doch ganz anders an.

„Ja, es ereignet sich jeden Tag auf der Welt immer genau so viel, dass es in einem Spanne von 13 Minuten passt“, gab Fritz mit verzogenen Mundwinkeln zu verstehen und sprach damit den standardisierten Zeitrahmen der Nachrichtensendung an und fügte dann noch hinzu: „So bleiben noch zwei Minuten für das Wetter und die Sponsoren“. Clarissa sah ihn unverständig an, schien dann etwas sagen zu wollen, entschloss sich aber doch zu schweigen und trank ihre Tasse in einem kräftigen Zug aus.

Als Fritz wieder alleine vor seinem Bildschirm saß und ein paar Zeilen einer amerikanischen Kollegin gelesen hatte, und er ein beigefügtes Foto betrachtete, das eine hellblonde junge Dame zeigte, erinnerte er sich an eine Episode, die er in den USA erlebt hatte. Fritz hatte sich einst, als er in New York auf Geschäftsreise war, einen Scherz mit einer leichtgläubigen Amerikanerin erlaubt, indem er ihr erzählte Milch käme von den weißen Kühen, wohingegen der Kakao den braunen Kühen „abgezapft“ würde. Zu seiner großen Verwunderung glaubte ihm die plantinblonde, von etlichen Schönheitschirurgen zurechtgemachte Dame jedes seiner Worte – offensichtlich war sie nicht auf einer Farm aufgewachsen. Im Grunde war er viel zu müde gewesen um ein Gespräch zu führen, doch nachdem er nicht schlafen konnte, ließ er sich an der Hotelbar auf eine Konversation ein und hatte doch seinen, wenn auch oberflächlichen, Spaß. `Genug davon, reiß dich zusammen!´ dachte sich Fritz und musste sich ordentlich an die Kandare nehmen, um noch etwas Produktives zuwerke zu bringen.

 

Fritz verließ an diesem Tag früher als üblich seine Arbeit. Ganz gegen seine Gewohnheit bummelte er gegen Abend durch die Fußgängerzone seiner Heimatstadt, ohne dabei jedoch besonders Acht auf die Auslagen zu geben. Zu sehr war er mit allerhand wirren Gedanken beschäftigt, die im Eiltempo sein Bewusstsein durchfluteten. Erst die paar Bierchen am Abend vor dem extra großen Bildschirm, auf dem im amerikanischen TV die Börsennachrichten liefen, verschafften ihm etwas Ruhe. Endlich sank er in sein Laken und schloss damit den Tag ab.

 

 

 

3

Schweißgebadet wachte Fritz in dieser Nacht, es war kurz nach halb drei Uhr, auf. Sein Herz raste wie wild und wäre wohl aus der Brust gesprungen und an der gegenüber liegenden Wand kleben geblieben, wenn es gekonnt hätte. Düstere Bilder waren es gewesen, die ihn eine schier endlos lang Zeit gequält hatten; er konnte es gar nicht glauben: als er auf die Uhr sah, dass er nicht mehr drei als Stunden geschlafen hatte. Dunkel war es im Traum gewesen, der ihm so real erschienen war, weitaus realer als sein gewöhnliches Leben, das er im Wachen zubrachte. Aber es war nicht nur diese unheimliche Schwärze, die von einer abgründigen Tiefe herzurühren schien, die sich kaum in Worte fassen ließ, sondern fast mehr noch die eisige Kälte, die ihn am ganzen Leib erfasste und bis in die Knochen durchdrang und scheinbar alle Leben in ihm zum Erlöschen gebracht hatte. Nur ein einziges Bild war immer wieder vor seinen Augen aufgetaucht: der grinsende Sensenmann mit dem Stundenglas, jene schaurige Erscheinungen auf der Beerdigung seines langjährigen Mentors, Alexander von Stein. Fritz erschien es nun noch makaberer als an jenem regnerischen Tag, dass dieser lebenslustige, stets optimistisch in die Zukunft blickende Mann einen Grabstein mit einer solch hässlichen Figur gewählt hatte. Doch nur für einen kurzen Augenblick kam ihm dieser Gedanke in den Sinn, dann erfasst ihn wieder die nackte Angst – der kalte Schweiß stand ihm auf der Stirn und der Blick in den Spiegel des Kleiderschrankes gegenüber dem Bett, zeigte ein kalkweißes Angstgesicht, das so gar nichts mit der gesunden, Färbung, der leichten Bräune gemein hatte, die sonst auf Fritz’ Gesicht zu finden war. Eine Geschichte kam ihm in Erinnerung, die er vor langer Zeit einmal aus Langeweile in einem Buch gelesen hatte. Er vermeinte, sie müsse wohl von Adalbert Stifter geschrieben worden sein, jedenfalls wusste er den Titel noch genau: „Zwei Witwen“. Wieso er gerade jetzt an diese dachte, konnte er sich beim besten Willen nicht erklären. Jedenfalls schoss ihm ein Gedanke durch den Kopf: „Ein unnütz’ Leben ist ein früher Tod“ – ein Goethezitat. Völlig wirr im Kopf stand er auf, machte einen großen Schritt über die am Fuß des Bettes schlafende Labradorhündin Tina, ging zum Kühlschrank in der Küche und trank ein großes Glas kalter Milch, denn obwohl er fror gelüstete ihn nach etwas Kaltem. Er konnte sich selbst nicht mehr verstehen, sank zurück ins Bett und versuchte zu schlafen, was ihm nicht gelingen wollte, so müde er nun auch war. So lag er bis zum Morgengrauen in den Federn und sinnierte vor sich hin, ohne dass seine Gedanken eine klare Richtung annehmen wollten. Die Zeit verging sehr langsam. Froh über den Anbruch des neuen Tages, trat er ins Badezimmer und rasierte sich. Als er in den Spiegel sah, schoss ihm ein Gedanken durch den Kopf: „Du musst dein Leben ändern!“.

 

Eine Buddhafigur aus dunkelrotem Wachs, der von zwei orangefarbenen Stumpenkerzen zu jeder Seite gesäumt wurde, war das erste worauf Fritz’ Blick fiel – dahinter ein übergroßes Poster eines Regenbogens über einer kitschig-unwirklichen anmutenden Hügellandschaft, auf der sich wohlgenährte, schwarz-weiß-gefleckte Kühe zufrieden im saftigen Gras räkelten. Zu allem Überfluss war das ganze Arrangement auch noch von zwei übergroßen Plastikpalmen eingerahmt. Er wusste sofort, dass er sich hier nicht wohl fühlen würde, wollte jedoch seine gute Kinderstube nicht verraten, seinen guten Willen zeigen und der Therapeutin eine Chance geben. Mit „Namaste“ begrüßte ihn eine zierliche, mandeläugige Asiatin mit schwarzsamtenen Haar und faltete dabei ihre Hände zu einer leichten Verbeugung.

„Grüß Gott“, gab Fritz zur Antwort und war selbst verwundert über diesen Anflug eines religiösen Grußes, den er ansonsten niemals gebrauchte und den er nur aus Urlauben in Bayern oder Österreich her kannte. Dr. Neumeyer, Psychiaterin und ausgebildete Psychotherapeutin, empfing ihn mit einem Grinsen, das ihn sogleich an eine Werbung für Zahnpflegeprodukte erinnerte – ein unwirkliches Weiß, indem man sich spiegeln konnte, blitzte ihm da entgegen. Fritz versuchte sogleich auf sein Thema zu sprechen zu kommen und erhoffte sich schnellen Rat. Alleine, er wurde bitter enttäuscht. Nach der ersten Sitzung, in der ihm die Grundbegriffe der Psychoanalyse beigebracht worden waren, fühlte er sich seltsam fremd – er war in eine Welt eingetreten, die ihn ans Theater erinnerte. Jeder hatte seine Rolle zu lernen und erst wenn der Text wirklich saß, konnte daran gegangen werden ernsthaft zu spielen. Doch spielen wollte er nicht, tat Dr. Neumeyer jedoch ein Zeitlang den gefallen und zeigte sich sehr „gefügig“. Schließlich sollte er dadurch ja etwas über sich erfahren, die Analyse seiner Seele schien das Gebot der Stunde zu sein und würde, darauf machte ihn die Therapeutin sogleich aufmerksam, möglicherweise lange Zeit dauern. In den nächsten Wochen hielt er jeweils drei Sitzungen mit der Psychiaterin ab, kannte sich nun aus mit Ödipuskomplex, Phobien, dem Unbewussten, dem Widerstand, der Übertragung und vor allem mit Eros, Libido und Todestrieb. Gerade der letztere schien viel Licht in seine verworrene Situation zu bringen, trieb ihn doch angeblich etwas wie magisch dem Tod entgegen. Fritz kam in der Therapie allmählich so weit, dass er genau vorhersagen konnte, wie alles Material, das er vorbrachte, von Dr. Neumeyer gedeutet wurde (selbst das Fehlen von verwertbarem Material wurde als „Material“ gewertet), ihm war auch klar, wie er auf ihre jeweiligen Worte regierten musste, um als „braver“ Patient zu gelten. Freilich durfte er es damit nicht übertreiben, denn zu brav zu sein, war ja wiederum eine versteckte Abwehr. Jedenfalls kam er so weit, dass seine Therapeutin sehr zufrieden mit ihm war und immer öfters von „Fortschritten“ sprach. Das Dumme war nur, dass Fritz sich immer elender fühlte und von „Fortschritt“ nicht im Geringsten etwas spürte. Dann, eines Tages, hatte er von der Schauspielerei genug und entschied sich ganz spontan zu fragen, ob man sich nicht endlich um seine existenziellen Schwierigkeiten kümmern könne, anstatt sich in vorgefertigten Bahnen aus komplizierten Begriffen zu bewegen. Etwas erstaunt meinte daraufhin Dr. Neumeyer, sie wäre Psychiaterin und Psychotherapeutin, sie könne sich um psychische Schwierigkeiten ihrer Klienten kümmern, doch Existenzielles falle nicht in ihre Kompetenz. Nun war Fritz klar geworden, dass man hier zwar wunderbar über den Tod sprechen konnte, sich endlos über allem möglichen Emotionen auslassen konnte, doch der Tod selbst kam hier überhaupt nicht vor. Als existenzielles Ereignis kam er in der Psychologie, aber auch in der Psychiatrie, überhaupt nicht vor. Sogleich beendete Fritz seine Behandlung und war nie mehr in einer psychotherapeutischen Praxis gesehen. 

Wenn er schon nicht wusste, was er mit seinem Innenleben anfangen sollte, so wollte Fritz sich eben um den Körper kümmern. Man wusste ja, dass Körper und Geist zusammengehörten und so dachte er, es könne nicht schaden, sich um den Leib zu kümmern. Fritz hatte sich daraufhin in einem Fitnesscenter eingeschrieben, nicht in irgendeinem, sondern im teuersten und angesagtesten weit und breit. Dort schwitzte er bald am Laufband was das Zeug hielt, machte einen einmaligen kurzen Abstecher zur Aerobicgruppe, bis er sich auf das Krafttraining verlegte, denn ein solches, davon war er überzeugt, war das Dringendste, was er brachte. Schlaffe Arme und ein schwabbelnder Bauchansatz legten beredtes Zeugnis seiner langen sportlichen Untätigkeit ab. Sport war das eine, verbunden damit war jedoch eine strickte Ernährungsumstellung, wie ihm sein persönlicher Fitnesstrainer unverblümt mitteilte. Überdies fand Fritz bald heraus, dass Ernährung und Gesundheit bierernste Themen waren, wer sich hier Leichtigkeit oder gar Humor erlaubte, disqualifizierte sich damit augenblicklich selbst. Ihm war dieses Milieu bald zuwider, das die Gesundheit zur Religion erhob und größtenteils aus verhärmten Narzissten bestand, die auf alles verächtlich herabsahen, was nach Lebensgenuss aussah. Im Grunde waren diese Leute alle auf der Flucht vor dem Tod, der sie am Ende doch alle erwischen würden, denn außer dem Tod gibt es keinen wirklichen Demokraten. Wieder hatte Fritz eine Rolle gespielt, eine, die man eben spielen musste, um zu einem bestimmten Milieu gehören zu dürfen. Doch was passiert, wenn die Realität, wenn etwas Existenzielles in dieses Milieu, in dieses Spiel einbricht?

 

 

4

Dann kam der 24. Mai. Fritz war wie immer früh aufgestanden, wunderte sich nur etwas, dass seine Hündin Tina ihn nicht begrüßte. Das Tier lag noch am Fuße seines Bettes, schien sich aber nicht zu bewegen. Nachdem er das Badezimmer wieder verlassen hatte und Tina auf sein mehrfaches Rufen hin nicht erschienen war, bemerkte er erst, dass in ihrem Körper kein Leben mehr war. Erneut hatte der Tod sein Leben berührt und wieder hatte er ihn mit voller Wucht getroffen.

Er war derart durcheinander, dass er sich von der Arbeit frei genommen hatte – glücklicherweise musste er an diesem Tag ohnehin nicht als Sprecher auftreten. Irgendwie hielt er es zu Hause bald nicht mehr aus und begab sich auf einen langen Spaziergang, den er früher, in seiner Jugend, oft unternommen hatte, für den er allerdings viele Jahre lang keine Zeit und Lust mehr gefunden hatte. Herrlich frisch mutete der Wald an, die Wiesen und der kleine Wildsee, an dem er vorbeikam schienen ihn zu begrüßen, wie jemanden, den man lange nicht mehr gesehen hatte. Am Ende kam er zu einer kleinen Kapelle, die umringt von hohen Ahornbäumen auf einer kleinen Anhöhe stand. Er hatte das kleine, etwas abseits vom Weg stehende  hölzerne Gebäude früher immer gemieden, nun aber zog ihn etwas unerklärlich hinein. So trat er in den dunklen Innenraum und blickte auf einen dunklen Holzaltar, der eine schlichte, bäuerliche Schönheit ausstrahlte. Eine Handvoll Kerzen brannten und erhellten den ansonsten recht dunklen Raum, da nur wenig Licht von außen durch die kleinen gemalten Schaben brach. Zu seiner Überraschung war er nicht alleine in der Kapelle, ein alter Mann saß andächtig in der zweiten Reihe und blickte auf den Altar, ohne sich umzusehen, als Fritz eintrat. Für ihn selbst unerklärlich setzte sich Fritz direkt neben den Mann, der einen weißen Bart trug und seinen Hände im Schoß gefaltet hatte. Der Mann blickte nun zum ersten Mal auf Fritz und sah ihn lange mit dunklen, sehr lebendig wirkenden Augen an. Nun aber überraschte Fritz sich selbst, mehr als jemals zuvor in seinem Leben, denn seine Lippen öffneten sich wie von selbst und er begann seine Geschichte zu erzählen: er ließ keine Einzelheit aus, angefangen von der Beerdigung, über seine Arbeit, seine Suche nach Hilfe, der Tod seines Hundes. Der Mann hörte während der ganzen Zeit aufmerksam zu, zeigte dabei jedoch kaum eine Regung, lediglich seine Augen blickten verständnisvoll. Als Fritz geendet hatte, trat eine Ruhe ein, die von ihm jedoch keineswegs als unangenehm empfunden wurde, was ansonsten typisch für ihn in einer solchen Situation gewesen wäre.

Dann begann der Mann mit tiefer, Stimme und langsam gesprochenen Worten an: „Schätze dich glücklich, denn dir ist etwas zuteil geworden, das die meisten Menschen nicht erfahren und wenn doch, dann erst nach vielen gelebten Leben. Wundere dich nicht, dass du gerade mit mir gesprochen hast, auch das gehört zu deiner Geschichte, ebenso, wie du zu der meinen.“ Wieder trat ein kurzes Schweigen ein, dann fuhr der Alte fort: „Orte wie dieser hier, an dem diese Kapelle steht, sind Orte der Wahrhaftigkeit, Orte an denen man der Wahrheit ganz nahe kommen kann, erfahren kann, was wirklich ist und für eine kurze Weile aus der Welt des Scheins entkommen kann. Hier triffst du nicht auf den Bluff der Welt, hier erfasst dich die Realität und erinnert dich daran, dass du dich nicht in der Welt verlieren darfst.“ Fritz verstand, was der Alte damit sagen wollte, obwohl ihm bewusst war, dass dieses Verständnis bald verschwinden würde, wenn er darüber nachzudenken beginnen würde, zumindest wenn er sich dabei seiner gewöhnlichen Art nachzudenken bediente. Der Alte stand auf, bekreuzigte sich und ging langsam zum Ausgang, seine Füße hob er dabei kaum an, so dass er sie mehr über den Boden schlurfen ließ, als dass er über ihn ging. In der Pforte drehte er sich noch einmal um uns sagte: „Es ist gut.“

Dann war der Mann verschwunden und obwohl Fritz ihm nur wenige Augenblicke später folgte, konnte er ihn draußen nirgendwo mehr entdecken. Auf dem Rückweg durch den Wald waren seine Gedanken seltsam klar, wie es lange Zeit nicht mehr der Fall gewesen war. Er spürte in sich eine neue frische Energie, die ihn vom Scheitel bis zu Sohle zu verjüngen schien. Es war auf diesem Spaziergang, als er eine der wichtigsten Entscheidungen seines Lebens traf.

 

 

5

Am nächsten Tag war Fritz seit längerer Zeit wieder einmal glücklich bei der Arbeit – ja er sprühte geradezu vor Energie und seine Kollegen bemerkten allesamt die Verwandlung, die mit ihm geschehen sein musste. Zwar machte der eine oder andere auch eine spöttische Bemerkung, die Fritz jedoch souverän mit Humor ins Gegenteil zu verwandeln wusste. An diesem Tag hatte er die Hauptnachrichten um 20 Uhr zu moderieren – alleine. Am späten Nachmittag sprach er mit dem Leiter der Nachrichten, seinem alten Freund Reinhard, der ihm von früher her noch einen Gefallen schuldete. Reinhard war überrascht, denn Fritz wollte nur eine einzige Sache für die heutige Nachrichtensendung garantiert haben, nämlich dass ihm heute die vollen 13 Minuten gegeben würden und der Sender unter keinen Umständen die Nachrichten unterbrechen würde. Er betonte noch einmal besonders, dass er die GESAMTE Zeit bräuchte. Reinhard verstand nicht, was Fritz damit meinte, denn die Nachrichten dauerten ohnehin 13 Minuten, wieso sollte jemand auf die Idee kommen diese Zeit mit einem anderen Beitrag zu unterbrechen. Darüber hüllte sich Fritz jedoch in Schweigen; er wollte nur das Ehrenwort seines Freundes, dass dieser ihm auch ohne weiteres gab, wenngleich er noch immer nicht verstand.

Dann kam der Abend und die Sekunden bis zur Signation der Nachrichten wurden optisch heruntergezählt. „Guten Tag meine Damen und Herren“, begann Fritz wie üblich, doch dann folgte etwas, das es in der Medienwelt so noch nie gegeben hatte. Fritz verkündete, dass sich an diesem Tag so überhaupt nichts von Bedeutung ereignet habe, dass es Zeitverschwendung wäre sich die Nachrichten anzusehen. Dies stimmte sogar, denn im ganzen Jahr hatte es kaum einen ereignisloseren Tag gegeben, so dass die Redakteure sich sehr bemühen mussten, um aus den gewöhnlichsten Dingen der Welt so etwas wie Sensationen zu kreieren. Fritz tat nichts dergleichen diese Beiträge anzumoderieren. Die Regie kam hinter den Bildschirmen ins Schwitzen und wollte mehrmals einen Werbeblock einschalten, doch Reinhard, der ja auch nicht wusste, was da gerade vor seinen Augen geschah, stand zu seinem Wort und ließ seinen Freund vor laufenden Kamera in seinem Tun gewähren. Nun begann Fritz damit, dass es ein so schöner Abend sei, dass es viel klüger wäre gute Freunde zu besuchen, einem geliebten Menschen eine Freude zu bereiten oder mit den Kindern oder dem Hund zu spielen. Die Menschen sollten sich daran erinnern, was ihnen wirklich wichtig wäre im Leben und welche Bedeutung eigentlich das hätte, was sie in der künstlichen Welt des Fernsehens sähen. Er ging sogar so weit zu sagen, dass es im Prinzip keinen Unterschied zwischen den Nachrichtensendungen, den Spielfilmen und den Soap operas gäbe, da diese doch alle künstlich geschaffen worden seien und nur durch den unterschiedlichen „Rahmen“, in den sie gesetzt würden, wie unterschiedliche (Schein-)Realitäten erschienen. Für das Fernsehen sei nur real, was in seiner künstlichen Welt vorkäme, nur das was gesendet würde, sei auch hier wirklich. Er selbst habe diesen Irrtum jahrelang mitgetragen und habe sogar dazu beigetragen, dass so viele Menschen mit einer Scheinwelt konfrontiert worden seine. Dafür entschuldige sich Fritz aufrichtig bei seinen Sehern. Am Ende wünschte er den Zuschauern alles Gute und ein „glückliches, mit Sinn erfülltes Leben“.

Sämtliche Sendemitarbeiter klebten förmlich an den Bildschirmen und konnten nicht glauben, was sie gerade erlebt hatten – etwas Fremden, das ihnen irreal erschien, hatte sich in ihre Welt geschoben und hatte ihnen im Kollektiv einen Ohrfeige verpasst, eine Ohrfeige, die der Plastikwelt von der existenziellen Welt verpasst worden war. Reinhard schwitzte Blut und Wasser. `Damit ist er erledigt´, dachte er sich, klopfte Fritz jedoch ermunternd auf die Schulter, als dieser das Studio verließ. „Danke mein Freund, das werde ich dir nie vergessen“, gab dieser zur Antwort und verließ das Sendegebäude.

Am nächsten Tag war Fritz zum „Rapport“ beim Sendeleiter, dem „Big Boss“, gerufen worden. Eine aufbrausende Tirade ergoss sich über ihn; von wegen Realität und dergleichen. Real sei, was der Sender als real bezeichne und für die Menschen habe gefälligst das wichtig zu sein, was ihnen präsentiert würde. Wo käme man da hin, wenn die Bildschirmwelt nicht als die wirkliche Welt angesehen würde und so weiter. Seit Jahrzehnten bemühe sich das Fernsehen darum den Menschen zu vermitteln was die Wirklichkeit wäre; es ginge deshalb nicht an, dass Otto Normalverbraucher auf die Idee käme dies in Eigenregie herauszufinden. Fritz ließ alles über sich ergehen, blieb innerlich unberührt und setzte sogar ein Lächeln auf, was den großen Chef freilich nur noch zu weiteren Zornesworte anstachelte. Mit Pauken und Trompeten flog Fritz aus seinem Sender - wüste Beschimpfungen seiner Vorgesetzten, außer von Reinhard, und mitleidige Blicke seiner Kollegen begleitet ihn dabei Als Fritz die Türen des Senders für immer hinter sich schloss und auf die Straße hinaustrat, hatte er ein Gefühl, das er seit vielen Jahren nicht mehr erlebt hatte. Er war frei und zufrieden und das war ihm nun mehr wert, als alles Gold der Welt.