1
Der alte
Priester, hatte mit seinen beiden Ministranten, ausgerüstet mit Weihwasser und
Wedel, das offene Grab freigegeben – es folgte in langem, sich rasch
bewegendem, schwarzem Gänsemarsch das Trauervolk – am Ende schließlich die engsten
Angehörigen des Verstorbenen, jeweils eine einzelne Rose in die dunkle Grube
werfend. Fritz beobachtet die Szene distanziert und obwohl er nicht zum
innersten Kreis der dem Verstorbenen nahe stehenden Personen gehörte, so
verpasste er es doch, ob all der Gedanken, die ihm durch den Kopf schwirrten
und so gar nichts mit einer Bestattung zu tun hatten, sich den Trauergästen bei
ihrer letzten Ehrerbietung vor dem Grab anzuschließen. Plötzlich stand er ganz
alleine da und selbst der letzte Großneffe mit seinem kleinen Sohn, er mochte
vielleicht zwei Jahre alt gewesen sein, hatte bereits die Stätte verlassen, als
er sich endlich dem Erdhaufen näherte, der neben den frischen hellen Brettern
aufgetürmt war, die dafür sorgen sollten, dass niemand – vorzeitig – in die
Grube fallen sollte. Der Grabstein war bereits angefertigt worden und lehnte am
vom Regen durchnässten Erdhaufen. Mit goldenen Lettern war auf dem polierten
dunkelgrauen Grund zu lesen: „Alexander von Stein: 1917 – 2014“ und in der
Zeile darunter „Es spielte und gewann“. Fritz konnte sich ein Schmunzeln ob
dieser Worte nicht verkneifen. Dieses verstummte jedoch sogleich, als seine
Augen auf eine kleine Figur aus schwarzem Marmor fielen, das auf einem kleinen
Podest direkt vor dem Grabstein stand und offenbar zu dem Gesamtensemble
gehörte: Der Sensenmann war da zu sehen mit höhnischem, grotesk verzerrtem
Grinsen, den Betrachter direkt in Augenschein nehmend, kaum höher als die
Laterne, die eine brennende rote Kerze beherbergte. Neben seinem eisernen Schnittgerät
stach ein Stundenglas heraus, das aus zwei aufeinander geschweißten
Glaszylindern bestand in denen sich feinkörniger weißer Sand befand. Der
Grabstein hatte etwas seltsam Unzeitgemäßes an sich; Fritz glaubte sich in die
Gruft einer barocken Kirche versetzt in eine Zeit in der das Leben noch
intensiv-üppig genossen wurde und man sich über den Tod noch keine Illusionen
machte. Schrecklich und unheimlich war der Anblick und ergriff ihn mehr als
alles, was er lange Zeit erlebt hatte; es schien ihm, als ob brodelnde Lava aus
dem Zentrum seines Herzens hervorquoll und doch gleichzeitig sein ganzer Körper
zu Eis erstarrte.
Wie
anders sah da doch das weiße Nachbargrab aus, das in romantischer Verklärung
einen zierlichen Engel mit allzu menschlichen Zügen zeigte, der einen
Verstorbenen, der wie ein Schlafenden wirkte, mit zärtlicher Aufmerksamkeit und
filigranen, sanft streichelnden Händen im Paradies empfing. Fritz’ Blick
schweifte wieder zum Sensenmann herüber. Er musste wohl eine ganze Weile so
verharrt haben, denn plötzlich riss ihn ein kräftiges Räuspern aus seiner inneren
Versenkung. Der Totengräber, den rechten Fuß auf seine Schaufel abgestützt und
mit diesem wippend, sah ihn mit ungeduldigem Blick an; er schien schnell seine
Arbeit verrichten zu wollen, um bald Feierabend machen zu können; schließlich
war die Beerdigung auf den frühen Abend verlegt worden, damit sich die
Trauergäste nicht extra von ihrer Arbeit frei nehmen mussten. Einen Augenblick
zögerte Fritz noch, spritzte dann noch einmal Weihwasser mit dem
Reisigzweiglein, das er die längste Zeit zwischen Daumen und Mittelfinger
gehalten hatte, auf das Grab und verließ dann langsamen Schrittes den
Gottesacker. Erst als er durch das kleine quietschende, leicht rostige Gatter,
den Friedhof verließ, bemerkte er, dass der Regen aufgehört hatte und sich
zwischen den Wolken zaghaft die Sonne durchzuschieben
anschickte.
2
„Sehen
Sie sich diesen Beitrag an – in Pakistan scheint sich wieder etwas zu tun“, mit
diesen Zeilen begann die erste Mail, die Fritz noch vor dem Frühstück las. Wie
gewöhnlich kam er auch nicht dazu außer einem Croissant und einem viel zu heiß
geschlürften Kaffee etwas zu sich zu nehmen. Im Büro war bereits kurz nach halb
acht die Hölle los gewesen, da irgendwo im Mittleren Osten ein Bombenanschlag
größeren Ausmaßes mit dutzenden Toten verübt worden war. Im Sender war man es
gewohnt über gewöhnliche Anschläge, worunter Anschläge bei denen „lediglich“
eine Handvoll Menschen ums Leben kamen, monoton und in wenigen Sekunden zu
berichten, doch das heutige Tagesereignis gehörte doch in eine andere Kategorie
und machte aufwendigere Arbeiten notwendig. Die 11-Uhr-Nachrichten sollten
damit ausgefüllt werden und Fritz, der beliebte Fernsehsprecher, würde die
„Ehre“ haben die Nation zu schockieren. Es gab zwar inzwischen erste Bilder von
den Verwüstungen in einem Einkaufzentrum, Sirenengeheul, wild umher irrende
Menschen – doch gesicherte Informationen waren spärlich. Trotzdem war den
Medienprofis klar, dass es sich dabei um einen erneuten Anschlag einer
berüchtigten Terrorgruppe handle, auf deren Konto schließlich auch beinahe alle
anderen Anschläge der letzten Zeit gehen sollten. Es wurde sogleich aus den
Archiven Bild- und Videomaterial des Anführers der Gruppe und seiner engsten
Vertrauten ausgegraben und mit entsprechenden „scharfen“ Texten kommentiert.
Der Psychologe des Senders hatte ganze Arbeit geleistet, hatte er doch früher
für die Kriminalpolizei gearbeitet, musste jedoch, nachdem es zu diversen „Meinungsverschiedenheiten“
und einigen „Zwischenfällen“ gekommen war, dort seinen Abschied nehmen. In der
Folge hatte er bei dem TV-Sender angeheuert, der nun stolz darauf war einen
„Gewalt- und Terrorexperten“ in seinen Reihen zu haben. Tatsächlich war der
Sender der erste, der scheinbar über Hintergrundmaterial zu den
Bombenanschlägen verfügte. Die 11-Uhr-Nachrichten erreichten die höchsten
Einschaltquoten seit einem halben Jahr, als in einem nahen Bergwerk über 50
Kumpels verschüttet worden waren.
„Ich
liebe unsere Branche – only bad news are good news!” meinte Clarissa, Fritz’ junge
Assistentin und goss die dritte Tasse starken Kaffee ihre Kehle hinunter,
nachdem sie ihrem Chef zu seinem Auftritt gratuliert hatte. Seltsamerweise war
Fritz von der Kaltschnäuzigkeit, mit der sie dies gesagte hatte, schockiert.
Etwas das ihn umso mehr verwunderte, da er diesen Slogan nur allzu selten
selbst benutzte. Aus dem Mund anderer hört sich manches doch ganz anders an.
„Ja,
es ereignet sich jeden Tag auf der Welt immer genau so viel, dass es in einem
Spanne von 13 Minuten passt“, gab Fritz mit verzogenen Mundwinkeln zu verstehen
und sprach damit den standardisierten Zeitrahmen der Nachrichtensendung an und
fügte dann noch hinzu: „So bleiben noch zwei Minuten für das Wetter und die
Sponsoren“. Clarissa sah ihn unverständig an, schien dann etwas sagen zu
wollen, entschloss sich aber doch zu schweigen und trank ihre Tasse in einem kräftigen
Zug aus.
Als
Fritz wieder alleine vor seinem Bildschirm saß und ein paar Zeilen einer
amerikanischen Kollegin gelesen hatte, und er ein beigefügtes Foto betrachtete,
das eine hellblonde junge Dame zeigte, erinnerte er sich an eine Episode, die
er in den USA erlebt hatte. Fritz hatte sich einst, als er in New York auf
Geschäftsreise war, einen Scherz mit einer leichtgläubigen Amerikanerin
erlaubt, indem er ihr erzählte Milch käme von den weißen Kühen, wohingegen der
Kakao den braunen Kühen „abgezapft“ würde. Zu seiner großen Verwunderung
glaubte ihm die plantinblonde, von etlichen Schönheitschirurgen zurechtgemachte
Dame jedes seiner Worte – offensichtlich war sie nicht auf einer Farm
aufgewachsen. Im Grunde war er viel zu müde gewesen um ein Gespräch zu führen,
doch nachdem er nicht schlafen konnte, ließ er sich an der Hotelbar auf eine
Konversation ein und hatte doch seinen, wenn auch oberflächlichen, Spaß. `Genug
davon, reiß dich zusammen!´ dachte sich Fritz und musste sich ordentlich an die
Kandare nehmen, um noch etwas Produktives zuwerke zu bringen.
Fritz
verließ an diesem Tag früher als üblich seine Arbeit. Ganz gegen seine
Gewohnheit bummelte er gegen Abend durch die Fußgängerzone seiner Heimatstadt,
ohne dabei jedoch besonders Acht auf die Auslagen zu geben. Zu sehr war er mit
allerhand wirren Gedanken beschäftigt, die im Eiltempo sein Bewusstsein
durchfluteten. Erst die paar Bierchen am Abend vor dem extra großen Bildschirm,
auf dem im amerikanischen TV die Börsennachrichten liefen, verschafften ihm
etwas Ruhe. Endlich sank er in sein Laken und schloss damit den Tag ab.
3
Schweißgebadet
wachte Fritz in dieser Nacht, es war kurz nach halb drei Uhr, auf. Sein Herz
raste wie wild und wäre wohl aus der Brust gesprungen und an der gegenüber
liegenden Wand kleben geblieben, wenn es gekonnt hätte. Düstere Bilder waren es
gewesen, die ihn eine schier endlos lang Zeit gequält hatten; er konnte es gar
nicht glauben: als er auf die Uhr sah, dass er nicht mehr drei als Stunden
geschlafen hatte. Dunkel war es im Traum gewesen, der ihm so real erschienen
war, weitaus realer als sein gewöhnliches Leben, das er im Wachen zubrachte.
Aber es war nicht nur diese unheimliche Schwärze, die von einer abgründigen
Tiefe herzurühren schien, die sich kaum in Worte fassen ließ, sondern fast mehr
noch die eisige Kälte, die ihn am ganzen Leib erfasste und bis in die Knochen
durchdrang und scheinbar alle Leben in ihm zum Erlöschen gebracht hatte. Nur
ein einziges Bild war immer wieder vor seinen Augen aufgetaucht: der grinsende
Sensenmann mit dem Stundenglas, jene schaurige Erscheinungen auf der Beerdigung
seines langjährigen Mentors, Alexander von Stein. Fritz erschien es nun noch
makaberer als an jenem regnerischen Tag, dass dieser lebenslustige, stets
optimistisch in die Zukunft blickende Mann einen Grabstein mit einer solch
hässlichen Figur gewählt hatte. Doch nur für einen kurzen Augenblick kam ihm
dieser Gedanke in den Sinn, dann erfasst ihn wieder die nackte Angst – der
kalte Schweiß stand ihm auf der Stirn und der Blick in den Spiegel des
Kleiderschrankes gegenüber dem Bett, zeigte ein kalkweißes Angstgesicht, das so
gar nichts mit der gesunden, Färbung, der leichten Bräune gemein hatte, die
sonst auf Fritz’ Gesicht zu finden war. Eine Geschichte kam ihm in Erinnerung,
die er vor langer Zeit einmal aus Langeweile in einem Buch gelesen hatte. Er
vermeinte, sie müsse wohl von Adalbert Stifter geschrieben worden sein,
jedenfalls wusste er den Titel noch genau: „Zwei Witwen“. Wieso er gerade jetzt
an diese dachte, konnte er sich beim besten Willen nicht erklären. Jedenfalls
schoss ihm ein Gedanke durch den Kopf: „Ein unnütz’ Leben ist ein früher Tod“ –
ein Goethezitat. Völlig wirr im Kopf stand er auf, machte einen großen Schritt
über die am Fuß des Bettes schlafende Labradorhündin Tina, ging zum Kühlschrank
in der Küche und trank ein großes Glas kalter Milch, denn obwohl er fror
gelüstete ihn nach etwas Kaltem. Er konnte sich selbst nicht mehr verstehen,
sank zurück ins Bett und versuchte zu schlafen, was ihm nicht gelingen wollte,
so müde er nun auch war. So lag er bis zum Morgengrauen in den Federn und
sinnierte vor sich hin, ohne dass seine Gedanken eine klare Richtung annehmen
wollten. Die Zeit verging sehr langsam. Froh über den Anbruch des neuen Tages,
trat er ins Badezimmer und rasierte sich. Als er in den Spiegel sah, schoss ihm
ein Gedanken durch den Kopf: „Du musst dein Leben ändern!“.
Eine
Buddhafigur aus dunkelrotem Wachs, der von zwei orangefarbenen Stumpenkerzen zu
jeder Seite gesäumt wurde, war das erste worauf Fritz’ Blick fiel – dahinter
ein übergroßes Poster eines Regenbogens über einer kitschig-unwirklichen
anmutenden Hügellandschaft, auf der sich wohlgenährte, schwarz-weiß-gefleckte
Kühe zufrieden im saftigen Gras räkelten. Zu allem Überfluss war das ganze
Arrangement auch noch von zwei übergroßen Plastikpalmen eingerahmt. Er wusste
sofort, dass er sich hier nicht wohl fühlen würde, wollte jedoch seine gute
Kinderstube nicht verraten, seinen guten Willen zeigen und der Therapeutin eine
Chance geben. Mit „Namaste“ begrüßte ihn eine zierliche, mandeläugige Asiatin
mit schwarzsamtenen Haar und faltete dabei ihre Hände zu einer leichten
Verbeugung.
„Grüß
Gott“, gab Fritz zur Antwort und war selbst verwundert über diesen Anflug eines
religiösen Grußes, den er ansonsten niemals gebrauchte und den er nur aus
Urlauben in Bayern oder Österreich her kannte. Dr. Neumeyer, Psychiaterin und ausgebildete
Psychotherapeutin, empfing ihn mit einem Grinsen, das ihn sogleich an eine
Werbung für Zahnpflegeprodukte erinnerte – ein unwirkliches Weiß, indem man
sich spiegeln konnte, blitzte ihm da entgegen. Fritz versuchte sogleich auf
sein Thema zu sprechen zu kommen und erhoffte sich schnellen Rat. Alleine, er
wurde bitter enttäuscht. Nach der ersten Sitzung, in der ihm die Grundbegriffe
der Psychoanalyse beigebracht worden waren, fühlte er sich seltsam fremd – er
war in eine Welt eingetreten, die ihn ans Theater erinnerte. Jeder hatte seine
Rolle zu lernen und erst wenn der Text wirklich saß, konnte daran gegangen
werden ernsthaft zu spielen. Doch spielen wollte er nicht, tat Dr. Neumeyer
jedoch ein Zeitlang den gefallen und zeigte sich sehr „gefügig“. Schließlich
sollte er dadurch ja etwas über sich erfahren, die Analyse seiner Seele schien
das Gebot der Stunde zu sein und würde, darauf machte ihn die Therapeutin
sogleich aufmerksam, möglicherweise lange Zeit dauern. In den nächsten Wochen
hielt er jeweils drei Sitzungen mit der Psychiaterin ab, kannte sich nun aus
mit Ödipuskomplex, Phobien, dem Unbewussten, dem Widerstand, der Übertragung
und vor allem mit Eros, Libido und Todestrieb. Gerade der letztere schien viel
Licht in seine verworrene Situation zu bringen, trieb ihn doch angeblich etwas
wie magisch dem Tod entgegen. Fritz kam in der Therapie allmählich so weit,
dass er genau vorhersagen konnte, wie alles Material, das er vorbrachte, von
Dr. Neumeyer gedeutet wurde (selbst das Fehlen von verwertbarem Material wurde
als „Material“ gewertet), ihm war auch klar, wie er auf ihre jeweiligen Worte
regierten musste, um als „braver“ Patient zu gelten. Freilich durfte er es
damit nicht übertreiben, denn zu brav zu sein, war ja wiederum eine versteckte
Abwehr. Jedenfalls kam er so weit, dass seine Therapeutin sehr zufrieden mit
ihm war und immer öfters von „Fortschritten“ sprach. Das Dumme war nur, dass
Fritz sich immer elender fühlte und von „Fortschritt“ nicht im Geringsten etwas
spürte. Dann, eines Tages, hatte er von der Schauspielerei genug und entschied
sich ganz spontan zu fragen, ob man sich nicht endlich um seine existenziellen
Schwierigkeiten kümmern könne, anstatt sich in vorgefertigten Bahnen aus
komplizierten Begriffen zu bewegen. Etwas erstaunt meinte daraufhin Dr.
Neumeyer, sie wäre Psychiaterin und Psychotherapeutin, sie könne sich um
psychische Schwierigkeiten ihrer Klienten kümmern, doch Existenzielles falle
nicht in ihre Kompetenz. Nun war Fritz klar geworden, dass man hier zwar
wunderbar über den Tod sprechen konnte, sich endlos über allem möglichen
Emotionen auslassen konnte, doch der Tod selbst kam hier überhaupt nicht vor.
Als existenzielles Ereignis kam er in der Psychologie, aber auch in der
Psychiatrie, überhaupt nicht vor. Sogleich beendete Fritz seine Behandlung und
war nie mehr in einer psychotherapeutischen Praxis gesehen.
Wenn
er schon nicht wusste, was er mit seinem Innenleben anfangen sollte, so wollte
Fritz sich eben um den Körper kümmern. Man wusste ja, dass Körper und Geist zusammengehörten
und so dachte er, es könne nicht schaden, sich um den Leib zu kümmern. Fritz
hatte sich daraufhin in einem Fitnesscenter eingeschrieben, nicht in
irgendeinem, sondern im teuersten und angesagtesten weit und breit. Dort
schwitzte er bald am Laufband was das Zeug hielt, machte einen einmaligen
kurzen Abstecher zur Aerobicgruppe, bis er sich auf das Krafttraining verlegte,
denn ein solches, davon war er überzeugt, war das Dringendste, was er brachte.
Schlaffe Arme und ein schwabbelnder Bauchansatz legten beredtes Zeugnis seiner
langen sportlichen Untätigkeit ab. Sport war das eine, verbunden damit war
jedoch eine strickte Ernährungsumstellung, wie ihm sein persönlicher
Fitnesstrainer unverblümt mitteilte. Überdies fand Fritz bald heraus, dass Ernährung
und Gesundheit bierernste Themen waren, wer sich hier Leichtigkeit oder gar
Humor erlaubte, disqualifizierte sich damit augenblicklich selbst. Ihm war dieses
Milieu bald zuwider, das die Gesundheit zur Religion erhob und größtenteils aus
verhärmten Narzissten bestand, die auf alles verächtlich herabsahen, was nach
Lebensgenuss aussah. Im Grunde waren diese Leute alle auf der Flucht vor dem
Tod, der sie am Ende doch alle erwischen würden, denn außer dem Tod gibt es
keinen wirklichen Demokraten. Wieder hatte Fritz eine Rolle gespielt, eine, die
man eben spielen musste, um zu einem bestimmten Milieu gehören zu dürfen. Doch
was passiert, wenn die Realität, wenn etwas Existenzielles in dieses Milieu, in
dieses Spiel einbricht?
4
Dann
kam der 24. Mai. Fritz war wie immer früh aufgestanden, wunderte sich nur
etwas, dass seine Hündin Tina ihn nicht begrüßte. Das Tier lag noch am Fuße
seines Bettes, schien sich aber nicht zu bewegen. Nachdem er das Badezimmer
wieder verlassen hatte und Tina auf sein mehrfaches Rufen hin nicht erschienen
war, bemerkte er erst, dass in ihrem Körper kein Leben mehr war. Erneut hatte
der Tod sein Leben berührt und wieder hatte er ihn mit voller Wucht getroffen.
Er
war derart durcheinander, dass er sich von der Arbeit frei genommen hatte –
glücklicherweise musste er an diesem Tag ohnehin nicht als Sprecher auftreten.
Irgendwie hielt er es zu Hause bald nicht mehr aus und begab sich auf einen
langen Spaziergang, den er früher, in seiner Jugend, oft unternommen hatte, für
den er allerdings viele Jahre lang keine Zeit und Lust mehr gefunden hatte. Herrlich
frisch mutete der Wald an, die Wiesen und der kleine Wildsee, an dem er
vorbeikam schienen ihn zu begrüßen, wie jemanden, den man lange nicht mehr
gesehen hatte. Am Ende kam er zu einer kleinen Kapelle, die umringt von hohen
Ahornbäumen auf einer kleinen Anhöhe stand. Er hatte das kleine, etwas abseits
vom Weg stehende hölzerne Gebäude früher
immer gemieden, nun aber zog ihn etwas unerklärlich hinein. So trat er in den
dunklen Innenraum und blickte auf einen dunklen Holzaltar, der eine schlichte,
bäuerliche Schönheit ausstrahlte. Eine Handvoll Kerzen brannten und erhellten
den ansonsten recht dunklen Raum, da nur wenig Licht von außen durch die
kleinen gemalten Schaben brach. Zu seiner Überraschung war er nicht alleine in
der Kapelle, ein alter Mann saß andächtig in der zweiten Reihe und blickte auf
den Altar, ohne sich umzusehen, als Fritz eintrat. Für ihn selbst unerklärlich
setzte sich Fritz direkt neben den Mann, der einen weißen Bart trug und seinen
Hände im Schoß gefaltet hatte. Der Mann blickte nun zum ersten Mal auf Fritz
und sah ihn lange mit dunklen, sehr lebendig wirkenden Augen an. Nun aber
überraschte Fritz sich selbst, mehr als jemals zuvor in seinem Leben, denn
seine Lippen öffneten sich wie von selbst und er begann seine Geschichte zu
erzählen: er ließ keine Einzelheit aus, angefangen von der Beerdigung, über
seine Arbeit, seine Suche nach Hilfe, der Tod seines Hundes. Der Mann hörte
während der ganzen Zeit aufmerksam zu, zeigte dabei jedoch kaum eine Regung,
lediglich seine Augen blickten verständnisvoll. Als Fritz geendet hatte, trat
eine Ruhe ein, die von ihm jedoch keineswegs als unangenehm empfunden wurde,
was ansonsten typisch für ihn in einer solchen Situation gewesen wäre.
Dann
begann der Mann mit tiefer, Stimme und langsam gesprochenen Worten an: „Schätze
dich glücklich, denn dir ist etwas zuteil geworden, das die meisten Menschen
nicht erfahren und wenn doch, dann erst nach vielen gelebten Leben. Wundere
dich nicht, dass du gerade mit mir gesprochen hast, auch das gehört zu deiner
Geschichte, ebenso, wie du zu der meinen.“ Wieder trat ein kurzes Schweigen
ein, dann fuhr der Alte fort: „Orte wie dieser hier, an dem diese Kapelle
steht, sind Orte der Wahrhaftigkeit, Orte an denen man der Wahrheit ganz nahe
kommen kann, erfahren kann, was wirklich ist und für eine kurze Weile aus der
Welt des Scheins entkommen kann. Hier triffst du nicht auf den Bluff der Welt,
hier erfasst dich die Realität und erinnert dich daran, dass du dich nicht in
der Welt verlieren darfst.“ Fritz verstand, was der Alte damit sagen wollte,
obwohl ihm bewusst war, dass dieses Verständnis bald verschwinden würde, wenn
er darüber nachzudenken beginnen würde, zumindest wenn er sich dabei seiner gewöhnlichen
Art nachzudenken bediente. Der Alte stand auf, bekreuzigte sich und ging
langsam zum Ausgang, seine Füße hob er dabei kaum an, so dass er sie mehr über
den Boden schlurfen ließ, als dass er über ihn ging. In der Pforte drehte er
sich noch einmal um uns sagte: „Es ist gut.“
Dann
war der Mann verschwunden und obwohl Fritz ihm nur wenige Augenblicke später
folgte, konnte er ihn draußen nirgendwo mehr entdecken. Auf dem Rückweg durch
den Wald waren seine Gedanken seltsam klar, wie es lange Zeit nicht mehr der
Fall gewesen war. Er spürte in sich eine neue frische Energie, die ihn vom
Scheitel bis zu Sohle zu verjüngen schien. Es war auf diesem Spaziergang, als
er eine der wichtigsten Entscheidungen seines Lebens traf.
5
Am
nächsten Tag war Fritz seit längerer Zeit wieder einmal glücklich bei der
Arbeit – ja er sprühte geradezu vor Energie und seine Kollegen bemerkten
allesamt die Verwandlung, die mit ihm geschehen sein musste. Zwar machte der
eine oder andere auch eine spöttische Bemerkung, die Fritz jedoch souverän mit
Humor ins Gegenteil zu verwandeln wusste. An diesem Tag hatte er die
Hauptnachrichten um 20 Uhr zu moderieren – alleine. Am späten Nachmittag sprach
er mit dem Leiter der Nachrichten, seinem alten Freund Reinhard, der ihm von
früher her noch einen Gefallen schuldete. Reinhard war überrascht, denn Fritz
wollte nur eine einzige Sache für die heutige Nachrichtensendung garantiert
haben, nämlich dass ihm heute die vollen 13 Minuten gegeben würden und der
Sender unter keinen Umständen die Nachrichten unterbrechen würde. Er betonte
noch einmal besonders, dass er die GESAMTE Zeit bräuchte. Reinhard verstand
nicht, was Fritz damit meinte, denn die Nachrichten dauerten ohnehin 13
Minuten, wieso sollte jemand auf die Idee kommen diese Zeit mit einem anderen
Beitrag zu unterbrechen. Darüber hüllte sich Fritz jedoch in Schweigen; er
wollte nur das Ehrenwort seines Freundes, dass dieser ihm auch ohne weiteres
gab, wenngleich er noch immer nicht verstand.
Dann
kam der Abend und die Sekunden bis zur Signation der Nachrichten wurden optisch
heruntergezählt. „Guten Tag meine Damen und Herren“, begann Fritz wie üblich,
doch dann folgte etwas, das es in der Medienwelt so noch nie gegeben hatte.
Fritz verkündete, dass sich an diesem Tag so überhaupt nichts von Bedeutung
ereignet habe, dass es Zeitverschwendung wäre sich die Nachrichten anzusehen.
Dies stimmte sogar, denn im ganzen Jahr hatte es kaum einen ereignisloseren Tag
gegeben, so dass die Redakteure sich sehr bemühen mussten, um aus den
gewöhnlichsten Dingen der Welt so etwas wie Sensationen zu kreieren. Fritz tat
nichts dergleichen diese Beiträge anzumoderieren. Die Regie kam hinter den
Bildschirmen ins Schwitzen und wollte mehrmals einen Werbeblock einschalten,
doch Reinhard, der ja auch nicht wusste, was da gerade vor seinen Augen
geschah, stand zu seinem Wort und ließ seinen Freund vor laufenden Kamera in
seinem Tun gewähren. Nun begann Fritz damit, dass es ein so schöner Abend sei,
dass es viel klüger wäre gute Freunde zu besuchen, einem geliebten Menschen
eine Freude zu bereiten oder mit den Kindern oder dem Hund zu spielen. Die
Menschen sollten sich daran erinnern, was ihnen wirklich wichtig wäre im Leben
und welche Bedeutung eigentlich das hätte, was sie in der künstlichen Welt des
Fernsehens sähen. Er ging sogar so weit zu sagen, dass es im Prinzip keinen
Unterschied zwischen den Nachrichtensendungen, den Spielfilmen und den Soap
operas gäbe, da diese doch alle künstlich geschaffen worden seien und nur durch
den unterschiedlichen „Rahmen“, in den sie gesetzt würden, wie unterschiedliche
(Schein-)Realitäten erschienen. Für das Fernsehen sei nur real, was in seiner
künstlichen Welt vorkäme, nur das was gesendet würde, sei auch hier wirklich.
Er selbst habe diesen Irrtum jahrelang mitgetragen und habe sogar dazu
beigetragen, dass so viele Menschen mit einer Scheinwelt konfrontiert worden
seine. Dafür entschuldige sich Fritz aufrichtig bei seinen Sehern. Am Ende
wünschte er den Zuschauern alles Gute und ein „glückliches, mit Sinn erfülltes
Leben“.
Sämtliche
Sendemitarbeiter klebten förmlich an den Bildschirmen und konnten nicht
glauben, was sie gerade erlebt hatten – etwas Fremden, das ihnen irreal
erschien, hatte sich in ihre Welt geschoben und hatte ihnen im Kollektiv einen
Ohrfeige verpasst, eine Ohrfeige, die der Plastikwelt von der existenziellen
Welt verpasst worden war. Reinhard schwitzte Blut und Wasser. `Damit ist er
erledigt´, dachte er sich, klopfte Fritz jedoch ermunternd auf die Schulter,
als dieser das Studio verließ. „Danke mein Freund, das werde ich dir nie
vergessen“, gab dieser zur Antwort und verließ das Sendegebäude.
Am
nächsten Tag war Fritz zum „Rapport“ beim Sendeleiter, dem „Big Boss“, gerufen
worden. Eine aufbrausende Tirade ergoss sich über ihn; von wegen Realität und
dergleichen. Real sei, was der Sender als real bezeichne und für die Menschen
habe gefälligst das wichtig zu sein, was ihnen präsentiert würde. Wo käme man
da hin, wenn die Bildschirmwelt nicht als die wirkliche Welt angesehen würde
und so weiter. Seit Jahrzehnten bemühe sich das Fernsehen darum den Menschen zu
vermitteln was die Wirklichkeit wäre; es ginge deshalb nicht an, dass Otto
Normalverbraucher auf die Idee käme dies in Eigenregie herauszufinden. Fritz
ließ alles über sich ergehen, blieb innerlich unberührt und setzte sogar ein
Lächeln auf, was den großen Chef freilich nur noch zu weiteren Zornesworte
anstachelte. Mit Pauken und Trompeten flog Fritz aus seinem Sender - wüste
Beschimpfungen seiner Vorgesetzten, außer von Reinhard, und mitleidige Blicke
seiner Kollegen begleitet ihn dabei Als Fritz die Türen des Senders für immer
hinter sich schloss und auf die Straße hinaustrat, hatte er ein Gefühl, das er
seit vielen Jahren nicht mehr erlebt hatte. Er war frei und zufrieden und das
war ihm nun mehr wert, als alles Gold der Welt.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen