Man hatte sich darauf verständigt, dass von nun ab zwischen
den Streitparteien gegenseitige Nichtbeachtung herrschen sollte, so dass
Schlimmeres vermieden werden konnte und der allgemeine Friede im Dorf wieder
hergestellt sein sollte. Das war nun die Lage in Hinterwaldzell, einer kleinen
aber überaus stolzen Gemeinde, irgendwo tief in einem abgelegenen Alpental.
Über viele Jahrhunderte hinweg blieben die Bewohner stets unter sich, sahen nur
zu allen heiligen Zeiten einen Fremden, heirateten untereinander und blieben
vom Geschehen in der großen weiten Welt beinahe völlig unberührt. Doch dann
brach die moderne Zeit an und der technologische Fortschritt drang bis in die
letzten Winkel des alten Landes vor, in dem sich Hinterwaldzell befand. Und
hier liegt auch die Wurzel des Übels und des Streits begraben, von der unsere
Geschichte handelt. Vor zwei Generationen kamen Fremde ins Tal, in ungewohnter
Bekleidung, mit exotischen Sitten und einer ebensolchen Sprache, zudem mit
Automobilen, Lastwagen und Omnibussen. Überwältigt von der Schönheit des
Gebirgstales beschlossen einige findige Geschäftsleute Kapital aus der
Landschaft zu schlagen und so wurde durch so manche Überredungskunst und so
manches Köfferchen mit Banknoten den Einheimischen Grundstücke und alte Rechte
abgekauft, um Liftanlagen, Seilbahnen, Zufahrtswege und etliche, mehr oder
weniger in die Landschaft passende, Ferienhäuschen zu errichten. Zuerst
vermeinten die meisten der Ortsansässigen, der Wohlstand wäre jetzt ausgebrochen,
lasen den Fremden, die nun in Scharen ob der guten Luft und der Höhensonne
herangestürmt kamen, jeden Wunsch von den Augen ab und träumten selbst von
einer Zukunft in der Milch und Honig flössen. Die Sache hatte jedoch von Anfang
an einen Haken. Wir müssen nämlich wissen, dass dieser Ort von einem meist
lieblichen Bächlein durchflossen wird, das sich allerdings bei Hochwasser in
einen reißenden Strom verwandeln konnte und schon oft so manches Häuschen, so
manchen Stall und sogar einige Menschenleben auf dem Gewissen hatte. Dieser
Bach nun, teilte das Dorf in zwei Teile. Der nördlich gelegene Teil, die
Sonnenseite, verfügte über schöne Weiden, sanft ansteigende Höhen und war seit
jeher die Heimat der wohlhabenden Bauern gewesen. Auf der schattigen Südseite
hingegen war Weideland von jeher sehr spärlich gewesen, der Winter dauerte hier
länger, war kälter und härter und der Sommer war so kurz, dass man oft das
Gefühl hatte der Frühling ginge direkt in den Herbst über. Zudem gab es hier
nur steil aufragende Felswände, so steile, dass nicht einmal eine Seilbahn
gebaut werden konnte. Kurz: es war die Talseite der armen Leute gewesen, seit
die ersten Siedler vor siebenhundert Jahren hierher eingewandert waren. Diese
Zweiteilung des Ortes hatte seit jeher für Spannungen gesorgt. Auf der einen
Seite die satten, wohlhabenden vom Kirchdorf, auf der anderen Seite die
Hungerleider vom Schattendorf. Neid auf der einen, Verachtung auf der anderen
Seite – so war es seit Urväterzeiten gewesen. Nun aber hatte der Tourismus, der
wie eine Lawine über Hinterwaldzell hereingebrochen war, das Fass zum
Überlaufen gebracht, die Gegensätze noch weiter verschärft und zur gegenseitigen
Unversöhnlichkeit der beiden Ortsteile geführt, da sämtliche geldbringenden
Hotels, Gasthöfe, Seilbahnen und Lifte sich in Kirchdorf befanden. Nur
gelegentlich wurde der eine oder andere Gast nach Schattendorf verwiesen, wenn
auf der anderen Talseite alle Betten belegt waren.
Es hatte sich nun die ganze Gemeinde gespalten, in zwei
Parteien. Angeführt wurde die jeweilige Partei von einem „Patron“, der die
Bewohner, der von ihm vertretenen Ortshälfte, geschlossen hinter sich stehend
wusste. Diese „Patrone“ hatten ihr Amt bereits von ihren Vätern übernommen und
jeder wusste sich im Recht, wenn es um die Vertretung der eigenen
Angelegenheiten ging – neue Projekte der Gemeinde waren deshalb zum Erliegen
gekommen, die Infrastruktur hatte allmählich gelitten und die Steuereinnahmen
gingen seit langem zurück. Doch die „Schattendörfler“ wollten zu keiner dieser
Angelegenheiten ihre Zustimmen geben, so lange nicht auch sie ihren „gerechten
Anteil“ am Wohlstand des Dorfes erhielten. So ging es lange Zeit dahin und
Hinterwaldzell verlor touristisch immer mehr an Bedeutung. Da hatte man sich am
Ende doch noch zusammengefunden und sah ein, dass eine gemeinsame Lösung
gefunden werden musste. Auch wurde nun immer mehr klar, dass die vorübergehende
Lösung, sich gegenseitig zu ignorieren, wenig taugte und schon aufgrund der
alltäglichen Besorgungen nicht eingehalten werden konnte. So trafen sich die
Vertreter beider Parteien einst im größten Wirtshaus, in Kirchdorf, ein und
beratschlagten, wie man in Zukunft in Frieden miteinander leben und wie dies
allem zum Wohl der ganzen Gemeinde sein könnte. Man kann sich vorstellen, dass
da bei manchem Bier ordentlich die Fetzen flogen, da man sich gegenseitig
nichts schenken wollte. Es ergab sich aber, dass ein junger Mann auftrat, der
gerade von der Universität zurückgekommen war, dort die Ökonomie studiert hatte
und nun wieder in seinem Heimatort weilte. Dieser meinte es müsse ein Projekt
ins Leben gerufen werden, das einerseits die gesamte Gemeinde einte und
gleichzeitig für wachsenden Wohlstand sorgen sollte – also eine Lösung, die
sowohl „sozial“, wie er sich ausdrückte, als auch finanziell von Vorteil sein
sollte.
Die erstaunten Gesichter, der Dorfältesten und der
Honoratioren verstummten und alles lauschte gebannt den Ausführungen des jungen
Mannes, der es überaus gut verstand seine Sache vorzutragen und die anderen für
sich zu gewinnen. Er schien sich schon lange auf diesen Tag gut vorbereitet zu
haben, denn er öffnete seine braune Ledertasche und zog einen dicken Ordner mit
Plänen, Folien, Tabellen und Diagrammen aller Art hervor, auf denen er seinen
Vorschlag ausgearbeitet hatte. Nun rückte er mit seinen Karten endgültig
heraus. Auf der „Sonnenspitze“, dem höchsten Berg des Tales, hoch über
Schattendorf, sollte ein „Alpenerlebniszentrum“ entstehen mit Hallen- und Freibad,
Sauna, Restaurants, Einkaufszentrum und so weiter uns so fort. Insgesamt 25000
Quadratmeter hätte alleine der Einkaufstempel zu umfassen. Erreichbar sollte
dieses „Center“ durch eine Seilbahn, die von dem, auf der Kirchdorfer Seite
gelegenen, „Stierkopf“ herüberführen sollte. Der größte Coup solle jedoch ein
Lift sein, der direkt von Schattendorf auf die „Sonnespitze“ führen sollte.
Dieser Lift würde ganze 1500 Höhenmeter durch den Felsen des Berges hindurch
nach oben führen! Den Zuhörern standen die Münder offen, keinem fiel ein Wort
aus der Lippe. Dann wurde ein Finanzierungskonzept vorgestellt, das scheinbar
hieb- und stichfest war. Der Mann hatte bereits die Zusage von finanzstarken
Investoren erhalten und unterbreitete den Staunenden die entsprechenden Papier
dazu. Als er mit seinem Vortrag geendet hatte und die Frage stellt, was die
anderen von seinem Projektvorschlag hielten, war es zuerst mucksmäuschenstill
in der großen Wirtshausstube. Dann jedoch ging es zu wie in einem Bienenstock.
Der Vorschlag wurde freudig aufgenommen, man gratulierte dem „Ökonomen“,
klopfte ihm freundschaftlich auf die Schultern, gab Wirtshausrunden aus und
geriet bald in immer hitzigere Stimmung. Vorschläge über Vorschläge, die immer
noch fantastischer klangen und sich gegenseitig überboten wurden in den Raum
geworfen. Keiner wollte hintan stehen und bemühte sich seine Vorstellungskraft
ordentliche Blüten treiben zu lassen. Nur einer war im Raum, der ganz still und
in seiner Ecke sitzen bliebt – es war der alte Bruckmeyer, der etwa abseits am
Waldrand in Schattendorf wohnte. Lange Zeit hatte ihn niemand bemerkt, doch als
der Abend später, die Stimmen heiser und das Bier mehr und mehr zu wirken
begann, kamen ein paar Kirchdörfler auf ihn zu und fragten nach seiner Meinung.
Etwas verschnupft zierte sich Bruckmeyer zuerst, rückte dann aber doch mit
seinen Gedanken heraus. Seiner Meinung nach sei das ganze Projekt ein
Luftschloss, eine hirnrissige Idee, ja geradezu ein Ausdruck von Größenwahnsinn.
Weiters meinte er, dass solches niemals gut ginge, wo man seine Grenzen nicht
mehr kannte, wäre der Absturz und das Verderben nicht mehr weit. Da lachten die
anderen höhnisch und winken ihn spöttisch ab – was war das Geschwätz eines
alten Pessimisten schon wert? So ging der Abend in die Nacht über und
allmählich leerte sich das Wirtshaus, nachdem die einzelnen Gäste sich auf den
Nachhauseweg gemacht hatten.
Es war nun beschlossene Sache, das „Zentrum am Berg“, wie
das Projekt heißen sollte, wurde gebaut. In Windeseile, ganz gegen die
Gewohnheiten, wurden sämtliche Bewilligungen erteilt, Architekten und Bauunternehmer
beauftragt und mit dem Werk begonnen. Erstaunlicherweise gab es auch keine
Bedenken in Bezug auf die Umweltverträglichkeit – lediglich ein kleines
Häufchen von Demonstranten und Aktivisten wurde einmal am Berg oben gesichtet,
aber mit der „Gesetzeskeule“ flugs unschädlich gemacht. Fast alle Arbeitskräfte
des Dorfes waren auf die eine oder andere Weise an dem Projekt beteiligt und
verdienten recht gut daran – mancher soll sich gar eine goldene Nase dabei
erworben haben. Es wurde nun im Akkord gearbeitet, der ganze Ort dröhnte monatelang
vom Hämmer, Betonieren, Bohren, Sprengen und den unzähligen Helikopterflügen,
mit denen Spezialteile auf den Berg hinauf gebracht wurden. Bei all dieser
Geschäftigkeit hatten die Hinterwaldzeller ihre Zwistigkeiten untereinander
völlig vergessen und es sah alles danach aus, als ob diese ein für alle Mal
beseitigt wären. Diese Verheißung des Projektes schien schon einmal in
Erfüllung gegangen zu sein.
Dann kam der große Tag. An einem schönen Sonntag im
September wurde das Megabauwerk eingeweiht. Politiker und Wirtschaftstreibenden
aus nah und fern fanden sich ein, Fernsehstationen, einige davon aus Japan und
China, waren ebenso anwesend, wie beinahe die gesamte lokale Bevölkerung. Alles
sah wunderbar aus und die Gier nach Geld funkelte in den Augen der Investoren.
Es kam der Winter, aber einer ohne jeglichen Schnee. Seit
Menschengedenken hatte es das noch nicht gegeben: auf über 2000 Metern Seehöhe,
der Höhe der „Sonnenspitze“, fiel von November bis März keine einzige
Schneeflocke – selbst Regen gab es in dieser Zeit nur wenig, so dass man für
das Frühjahr schon Schlimmes befürchtete. Es versteht sich von selbst, dass
damit die Wintersaison völlig ins Wasser fiel und die Betten, bis auf ganz
wenige Ausnahmen, leer blieben. Langsam begann man sich im Dort Sorgen zu
machen, doch die Optimisten behielten vorerst noch die Oberhand und verwiesen
auf den kommenden Sommer, der sicherlich genügend Gäste ins Tal bringen würde,
um den schlechten Winter wettmachen zu können.
Alleine, es kam ganz anders. Das „Zentrum am Berg“ wurde an
keinem einzigen Tag seit seinem Bestehen von mehr zwei oder drei Dutzend
Menschen besucht, einmal abgesehen vom Tag der pompösen Eröffnung. Die wenigen
Läden, die sich eingemietet hatten, schlossen nach und nach und nachdem auch zu
Ostern kaum jemand den Weg nach oben gefunden hatte, schlossen auch die beiden
Restaurants, die noch verblieben waren. Das Hallenbad machte zu Pfingsten dicht
und die Büros der Verwaltung, die den schönsten Blick auf die umliegende
Berglandschaft hatten, zogen zu Beginn des Sommers ins Tal hinunter, in weitaus
bescheidenere Räumlichkeiten – Arbeit gab es ja ohnehin kaum mehr eine zu
erledigen. Die Investoren wurden immer ungeduldiger und nach Ablauf der
Sperrfrist verkauften bereits die ersten ihre Anteile – meist zu
Schleuderpreisen, froh darüber überhaupt jemanden gefunden zu haben, der die
Papiere noch haben wollte, nachdem ihr Wert ins Bodenlose gestürzt war.
Der Sommer kam und auch dieser fiel ins Wasser –
buchstäblich, denn es regnete von Anfang Juli bis Mitte September beinahe jeden
Tag. Es war die schlechteste Tourismussaison aller Zeiten, niemand, nicht
einmal die ältesten Greise des Ortes, konnten sich daran erinnern, derart
wenige Fremde in einer Saison gesehen zu haben.
Dann kam der 20. September, der Jahrestag der Eröffnung.
Dieser war, welche Ironie, einer der schönsten und wärmsten Tage des ganzen
Jahres gewesen; die Sonne lachte vom wolkenlosen stahlblauen Himmel und ein
sanftes Lüftlein sorgte dafür, dass die Hitze als angenehm empfunden wurde. Dann
kam der Abend und bald darauf die sternenklare Nacht. Mitten in der Nacht
heulten die Sirenen, denn der Gipfel der „Sonnenspitze“ stand in Flammen! Woher
war das Feuer gekommen, es hatte doch kein Unwetter mit Blitz und Donner
gegeben? Auch war der Betrieb im „Zentrum am Berg“ längst eingestellt worden.
Jedenfalls züngelten die lodernden Flammen, durch den kräftigen Wind ständig angefacht,
hoch in den Himmel hinauf. Es war nur ein Glück, dass auf jener Höhe oben kein
Wald mehr gedieh und auch sonst kaum etwas Brennbares in der felsigen Gegend
vorhanden war, so dass die Flammen nicht überschlagen konnten. Die Feuerwehr
brauchte lange, um auf jene Höhe zu gelangen, unterstützt wurde sie dabei von
Löschhubschraubern, die teilweise von weit hergeholt werden mussten. Doch es
half alles nichts. Viele Stunden lang kämpften die Einsatzkräfte vergeblich
gegen das Feuer und konnte am Ende doch nichts anders als ihre Niederlage
eingestehen. Das ganze Dorf hatte sich auf den „Stierkopf“ begeben, von dem aus
man den besten Blick rüber zur „Sonnenspitze“ hatte, um dem schaurigen
Schauspiel beizuwohnen. Gegen Mittag waren die meisten wieder ins Tal
zurückgekehrt, lediglich eine Handvoll Leute befand sich noch auf dem Berg.
„Das war’s mit der Einheit des Dorfes!“, meinte ein
korpulenter Geselle, der aus Schattendorf kam.
„Das mit der Einheit wäre ja noch zu verkraften, aber denk
doch an all das verlorene Geld!“, kam es daraufhin von einem Kirchdörfler. Dann
machten auch die beiden sich auf. Der alte Bruckmeyer stand alleine beim
Gipfelkreuz und sah noch einmal rüber auf die rauchenden Überreste des einst so
stolzen Gebäudekomplexes auf der „Sonnenspitze“ und meinte: „Windhauch, es ist
alles Windhauch.“
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