Samstag, 24. Oktober 2015

Der Oktoberchristbaum


Jetzt haben sie mich doch noch erwischt! In der Blüte meiner Jahre, fast noch ein Jüngling, wurde ich brutal von meinen Wurzeln getrennt – buchstäblich – mit einer Motorsäge ist das grausame Werk vollbracht worden. Ein letztes Adieu dem Ort wo meine Wiege stand, wo ich zum ersten Mal das strahlende Blau des Himmels erblickte und dem lieblichen Gezwitscher der Vögel im Frühling lauschte und wo so manches Rehlein an mir vorüber lustwandelte. Oh weh mir, ich unglücklichstes Geschöpf unter der Sonne!

 

Schon in manchem Jahr zur selben Zeit musste ich mit Schrecken ansehen, wie sie meine Kameraden, viele davon Jahrgänger, nach und nach geholt hatten. Herausgerissen aus dem Verband ihrer Freunde, blieb nur ein hässlicher Stumpf übrig, der uns Überlebende stets daran erinnerte, was sich hier immer im Spätherbst Leidvolles aufs Neue zuträgt.  Es war immer das gleiche Martyrium: Stämmige Gesellen mit leuchtenden Helmen ausgestattet stapften mit groben großen Schritten durch das vorher so friedlichen Wäldchen. Ihre Waffen, metallen surrende Mördermaschinen mit skapellscharfen, frisch geschliffenen Stahlketten, schnitten gnadenlos in das zarte Fleisch meiner Liebsten. Ich hörte sie noch schreien in ihrer Todesqual – dann folgte ein Stöhnen und Röcheln, das bald verstummte, nachdem sie lieblos auf einen kalten, harten Anhänger geschmissen wurden. Eine stinkende Wolke aus dem Auspuffsrohr, das war alles, was noch eine Weile in der Luft stand und von dem Verbrechen an meinen Kameraden zeugte. Doch über das Jahr, wenn der Frühling auch unsere im Winter kahlen entfernten Verwandten mit saftigen zartgrünen Blättern ausstattet, vergaß man was im Jahr zuvor geschehen war. Kam der Sommer, so freute ich mich stets an meiner Jungend und meiner Kraft und dacht mir nichts Böses mehr.

 

Und dann! - Dann kam er, der 24. Oktober, der Tag an dem mein Schicksal zuschlug, der Tag meiner Entwurzelung. Aber es hat sein müssen, denn nach astrologischer Meinung müssen Christbäume drei Tage vor dem elften Vollmond im Jahr geschnitten werden – da hilft nichts, auch wenn’s noch zwei Monate bis zum Weihnachtsfest sind – umgehauen gehört er – so will es der Aberglaube und da fährt bekanntlich die Eisenbahn drüber. Ohne Gefühl ging es Ruckzuck: die Säge angesetzt, einmal kurz zugedrückt und schon fiel ich krachend auf den Boden. Doch erholen konnte ich mich nicht, wurde ich doch sogleich von groben Pratzen im Würgegriff mitgezerrt wobei mein zarten Stamm unbarmherzig über viele nackte spitze Steine im Waldboden gezogen wurde. Ach, ich spüre heute noch den Schmerz in all meinen Gliedern. Dann kam auch ich auf einen Anhänger, gleich neben einen Jungendfreund, der noch gute Miene zum bösen Spiel machte. Der Glückliche, Humor hatte er immer schon gehabt, doch der half ihm nun auch nichts mehr.

 

Man meinte, ich müsse nun kühl lagern, bis zum Fest, wo ich meinen großen Auftritt in einer überheizten, stickigen Stube haben soll, schwer behangen mit glitzerndem Foltergerümpel, das angeblich Freude bringen soll und eine Zierde für die Wohnstatt wäre. Mein Schweiß würde lieblichen Tannenduft ins Heim bringen und für „Atmosphäre“ sorgen, so das allgemeine Gerade. Ha, - wenn das mal nicht zynisch ist! Doch, was sag ich da? Werde ich es noch erleben dieses Weihnachten?

 

Da lieg ich nun, herzlos hingeklatsch auf  grobe Hartholzplanken, unter das Vordach eines alten Gartenschuppens, umgeben nur vom Schatten, denn selbst zu Mittag erreicht mich keine der Strahlen der lieben Sonne, die mich doch jeden Morgen von Kindesbeinen an zärtlich wachgeküsst und an die ich mich so gewöhnt hatte.

 

Oh weh mir, ich armer Tannenbaum, was werde ich noch alles erleben müssen?! 

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