Sonntag, 28. Februar 2010

Die Geschichte von Miyamoto

Im alten Japan lebte einst ein junger Mann mit dem Namen Miyamoto. Er war der Sohn eines großen und im ganzen Land berühmten Meisters der Teezeremonie. Einer seiner Vorfahren war der große Meister Sen no Rikyu gewesen, der bevorzugte Teemeister des Herrschers Hideyoshi. Ganz in der Tradition seiner Familie sollt auch Miyamoto die Kunst des Chanoyu, des Weges des Tees, erlernen. Seit drei Jahren hatte er nun bei seinem Vater den Teeweg studiert und es zu einer beachtlichen Fertigkeit darin gebracht, alle die ihn sahen meinten er sei ein begabter Künstler und wäre bald ein würdiger Nachfolger seines Vaters. Alleine dem Vater mochte der Sohn nicht genügen. „Es ist dein Geist mein Sohn, die anderen mögen es nicht bemerken, doch ich kann nicht darüber hinweg sehen.“ Dies waren die Worte, die Miyamoto in seinem Herzen hörte, als er in der Abenddämmerung im kleinen Pavillon saß, der am anderen Ende des Gartens unter einem großen Kirschbaum stand. Er blickte aufs Meer hinaus, das sich in den letzen Strahlen der orange leuchtenden Abendsonne wie ein weiter Teppich vor ihm ausbreitete.
Lange saß er so da, den Blick nicht vom Horizont abwendend, eher er einer Gestalt gewahr wurde, die sich unbemerkt neben in gesetzt hatte. Es war sein Freund Yoshida, den er, sich nur halb zur Seite wendend, erkannte. „Wie ruhig das Meer erscheint? Und doch verschluckt es Menschen und ganze Länder“, sprach Miyamoto leise. „Dir ist nicht wohl guter Freund, so lasst uns doch ins Vergnügungsviertel gehen! Dort findest du Trost von der Welt“, entgegnete Yoshida. „Nein, nicht dieses Mal. Für das, was mich quält kann ich keinen Trost finden. Ich leide an einer Krankheit des Herzens, doch die Medizin dafür, die existiert nicht in der Welt.“ „Verzeih, aber was weist du schon von der Welt? Wenn man stets so in Gedanken versunken ist wie du und sich die Welt nur im Geiste ausmalt, was weiß man dann von den Menschen?“ Miyamoto blieb schweigend sitzen ohne auf die Herausforderung seines Freundes einzugehen. Endlich entgegnete er: „Und mein Vater sagt, es läge an meinem Geist. Dabei arbeite ich doch an nichts anderem.“ Darauf meinte Yoshida: „Du verwendest ihn falsch deinen Geist, deshalb ist er so verschmutzt. Wenn du sprichst, so tust du das nicht als wahrer Mensch, nein du bewältigst nur. Wenn deine Sprache zu deinem wahren Ausdruck geworden ist, erst dann kannst du davon sprechen gesund zu sein.“ Miyamoto konnte nicht glauben, was er da von seinem Freund, seinem besten, vernommen hatte. Er sprang auf und versuchte Yoshida am Kragen zu packen. Dieser jedoch war schneller und, als eifriger Schüler des Bogenschießens und auch in den anderen Kampfkünsten nicht unbewandert, warf Miyamoto zu Boden. „Du wirst die Wahrheit erkennen!“, sagte Yoshida und ordnete sein Gewand. Daraufhin verließ er den Garten und ließ Miyamoto alleine zurück.
Einige Wochen gingen ins Land und Miyamoto gab sich weiter seinen Studien hin und glaubte darin beträchtliche Fortschritte zu machen. Doch sein Vater war anderer Meinung, je mehr sich sein Sohn anstrengte, desto unzufriedener wurde er mit ihm. Die Technik war gut, der Wille vorhanden, auch stellte sich der Junge sehr geschickt an und doch fehlt ihm genau jenes Quäntchen, das eine Zeremonie über das gewöhnliche Maß der Anmut hinaus erhob. Der Vater beschloss, dass er genug Geduld gezeigt hatte und wollte seinen Sohn einer Prüfung unterziehen. Also ließ er Miyamoto zu sich rufen und eröffnete ihm: „Mein lieber Sohn, seit drei Jahren lernst du nun den Chanoyu. An gutem Willen fehlt es dir nicht, auch nicht an Talent, nein, nein. Doch du und der Tee sind noch nicht eins. Ich habe dir lange zugesehen, väterliche Güte walten lassen und mir gesagt, es würde doch noch kommen, doch die Monate gingen dahin, ohne, dass sich etwas geändert hat. Ich bin deshalb zur Überzeugung gelangt, dass nur eine Prüfung endgültige Gewissheit bringen kann. Von dieser Prüfung wird dein weiteres Schicksal abhängen.“ Der Sohn, inzwischen besonders hellhörig geworden, sagte: „Was immer ihr wollt, Vater, ich werde alles tun.“ Der Vater nickte und fuhr weiter fort: „In drei Wochen kommt mich Prinz Genji besuchen, er ist ein alter Freund von mir und großer Liebhaber der Teezeremonie. Ich möchte, dass du für den Garten sorgst. Prinz Genji liebt nämlich auch die wunderbare Ästhetik unserer Gärten.“ Miyamoto war einverstanden, wenn es ihm auch etwas seltsam erschien für die Gartengestaltung sorgen zu sollen.
Drei Tage vor dem angekündigten Besuch des Prinzen verließ der Vater das Haus, um den Genji bereits an der Provinzgrenze zu empfangen und ihn zu sich nach Hause zu geleiten, Miyamtoto sollte inzwischen die letzen Vorbereitung treffen. So geschah es auch. Er sorgte dafür, dass der Rasen ebenso wie alle Büsche, Sträucher und Hecken perfekt geschnitten waren, er hatte dazu extra die besten Gärtner der ganzen Umgebung engagiert. Der Steingarten war vom letzen Laub befreit, die Veranda neu poliert, die Platten des Fußweges gesäubert und der Torbogen neu gestrichen worden. Alles schien perfekt zu sein. Da entdeckte Miyamoto in einer abgelegenen, kaum zu erkennenden Ecke des Gartens, hinter zwei dicken Ahornbäumen eine Gestrüpp. Offensichtlich hatte sich lange keiner mehr um diesen Teil gekümmert. Das Gestrüpp wurde entfernt und darunter kam eine kniehohe Statue eines Waldgeistes zum Vorschein. Die Oberfläche war rau und voller Moos, die Statue musste uralt sein, Miyamoto hatte sie noch nie gesehen, auch hatte nie jemals einer über sie gesprochen. „Die ist völlig aus der Mode, so etwas stellt heute kein Handwerker mehr her!“, meinte einer der Gärtner und empfahl sie aus dem Garten zu entfernen. Miyamoto schloss sich dieser Meinung an, ließ die Statue in einen Schuppen bringen und befahl den Gärtner auf dem Markt eine neue, der Zeit entsprechende Skulptur zu besorgen. Miyamoto war mit seinem Werk zufrieden, am nächsten Tag würde der Prinz erscheinen und sicher seine Freude daran haben. Doch mitten in der Nacht begann es zu schneien. Geistesgegenwärtig eilte Miyamoto nach draußen ins Freie und bedeckte die runden Steinplatten vom Eingang bis zum Haus mit runden Polstern. In der früh, als es aufgehört hatte zu schneien, sprang er nach draußen und entfernte vorsichtig die Kissen.
Als der Prinz die ebenmäßigen runden aperen Kreise auf den Steinplatten inmitten des weißen Schnees sah, die zum Hauseingang führten, war er entzückt, ob dieser natürlichen Schönheit. Er wusste zwar nicht, wie dies zuwege gebracht worden war, doch dies schien im gegenwärtigen Augenblick auch unbedeutend zu sein. Er wollte unbedingt den Künstler kennen lernen, der solches vollbracht hatte. Voller stolz stellte der Vater Miyamoto dem Prinzen vor, welcher voll des Lobes für des Teemeisters Sohn war. Der Vater warf dem Sohn einen anerkennenden Blick zu, er glaubte nun, dass der Junior die Essenz seiner Kunst begriffen hätte. Plötzlich schob sich die fahle Wintersonne zwischen den Wolken hervor, als wollte sie das Schauspiel erhellen. Der weiße Schnee begann zu glitzern und ein helles Blitzen traf das Gesicht des Prinzen. Es kam aus dem hintersten Teil des Gartens, zwischen den großen Bäumen. Der Prinz wollte jetzt der Sache nachgehen. Der Vater war verwundert, konnte er sich nicht erinnern, dass sich dort hinten etwas befand, was zu glitzern vermochte, doch Miyamoto begriff sofort woher es stammte und hoffte nun auf erneutes Lob des Prinzen. Als die drei zu den Bäumen hin traten, erblickten sie zwischen diesen eine nagelneue, glatt polierte Statue aus weißem Stein. Nun geschah aber das Unfassbare. Der Prinz war enttäuscht und fragte, was aus der wunderbaren alten Statue geworden sei, die er so liebte. Miyamoto erstarrte vor Schreck, brachte kaum ein Wort heraus, der Vater aber geriet in Wut und bezeichnete seinen Sohn als Idioten, als Stümper und noch einige andere solcher Bemerkungen folgten.
Als der Prinz seinen Besuch nach der Teezeremonie beendet hatte, gingen Vater und Sohn schweigend wieder ihren Geschäften nach. Am nächsten Tag rief der Vater seinen Sohn zu sich. „Mein Sohn, du hattest von mir eine Chance bekommen. Doch leider musste ich feststellen, dass du sie nicht genutzt hast. Deshalb musst du mein Haus verlassen, der Weg des Tees ist nicht dein Weg!“ Damit übergab der Vater ihm sein Erbe in Form eines Sacks voller Goldstücke. Traurig und ohne ein Ziel verließ Miyamoto das Haus seines Vaters. Er wanderte auf einer Landstraße nach Norden. Wo immer er auch hinkam, nahm er Quartiert, doch nachdem er niemandem kannte und in Geschäftsangelegenheiten nicht besonders geschickt war, bezahlte er sowohl für Unterkunft, als auch für Nahrung und Kleidung stets zu viel und das Erbe des Vaters wurde immer kleiner. Er versuchte das Geld festzuhalten, doch je mehr er daran festhielt, desto mehr schien er davon zu verlieren. Sparsamkeit zahlte sich nicht aus und er wurde beinahe verrückt dadurch, fand er doch keine Erklärung für sein Schicksal. Sogar von Mönchen und Priestern wurde er belogen und betrogen. Auch beim Glücksspiel verlor er Unsummen und die Vergnügungsviertel der jeweiligen Städte, durch die er kam, waren auch nicht eben billig. Miyamotos Glaube an die Menschen wurde arg erschüttert, doch noch wollte er ihn nicht völlig aufgeben, zu sehr hing er noch an der Erziehung seiner Eltern, die ihn stets das Gute gelehrt hatten. Doch die Erlebnisse zehrten mächtig an dem jungen Mann und seine Seele litt fürchterlich. Bald mied er die dichten bevölkerten Straßen und wanderte in den Wäldern entlang der Berge in Richtung Kyoto, der Hauptstadt. Dort wollte er sein Glück versuchen. Doch nachdem er viele Stunden durch die dichten Wälder gewandert und keiner Menschenseele begegnet war, fühlte er sich immer unbehaglicher. Der Wald war hier so dunkel, die Stämme der Bäume standen so dicht bei einander, dass es ihn schon beinahe an eine Palisade gemahnte, das Blattwerk war so dicht, dass kaum ein Sonnestrahl bis zum weichen Waldboden durchdrang. Plötzlich, wie aus dem Nichts heraus, sprangen zwei Gestalten aus einem Dickicht hervor und versperrten ihm mit gezückten Schwertern den Weg. Sie trugen beide dunkle Bärte und ihre Augen glühten, wie die von wilden Bestien.
„Ei edler Herr, so alleine unterwegs, an einem so gefährlichen Ort?“, kam es von dem einen.
Miyamoto war vor Schreck erstarrt und brachte kein Wort über die Lippen.
„Stumm ist er auch noch!“, lachte der andere.
„Was, was wollt ihr...?“, stammelte Miyamoto, um Atem ringend.
„Wir sind bescheidene Waldbewohner, wir möchten nur, was uns zusteht, Ihr schreitet hier über unseren Weg und das kostet euch Wegzoll.“
Miyamoto beruhigte sich ein wenig. „Wie viel?“, fragte er nun.
„Alles!“
„Das ist nicht euer Ernst“, sagte Miyamoto in einem kleinen Anfall von Mut, der jedoch sogleich wieder verging.
„Sehen wir aus, als ob wir scherzten? Los her damit, hier wird nicht lange gefackelt! Oder wollte ich auch noch euer Leben verlieren?“
Damit war für Miyamoto die Sache klar, er übergab den Räubern seinen Sack mit den Goldstücken. Der größere der beiden machte eine tiefe Verbeugung, bedankte sich und machte Miyamoto den Weg frei, so dass dieser passieren konnte.
„Und gute Reise!“, rief der Räuber ihm noch nach. Beide Schurken brachen daraufhin in schallendes Gelächter aus.
Miyamoto war beschämt, er hatte nun nichts mehr, alles was er auf der Welt noch besessen hatte, war nun verloren. Er konnte sich selbst nicht mehr in die Augen sehen und als er an einem See anhielt, um sich zu waschen, ekelte er sich beim Anblick seines Gesichtes auf der Wasseroberfläche. Die Tränen standen ihm in den Augen und er rannte auf einmal blindlings drauflos, ohne eine Vorstellung davon zu haben wohin es ging, er rannte und rannte ohne Unterlass. So litt er einige Tage alleine, ohne etwas zu essen, ohne sich zu waschen, ohne die Gesellschaft irgendeines Menschen. Dann fasste er einen Entschluss: Er wollte so nicht mehr leben, er wollte Rache an der Welt nehmen, die ihn so ungerecht behandelt hatte, die Menschen verdienten nicht, dass ihnen Gutes geschähe. `Schlägt man einen Menschen, so tut man es auch immer zu Recht, auch wenn man den genauen Grund nicht angeben kann, denn jeder Mensch ist schlecht und jeder hat in seinem Leben genug Verbrechen begangen, dass man ihn dafür hinrichten könnte. Der Unterschied zwischen jenen im Gefängnis und jenen in Freiheit besteht nur darin, dass man letzteren nicht drauf gekommen war´, das wurde nun seinen Überzeugung, seine Meinung von der Welt: Alle Menschen seine schlecht, keiner tauge etwas und im Grunde verdiene keiner etwas anderes als den qualvollen Tod. Ja, Miyamoto wollte ein Rächer sein, ein Engel der Gerechtigkeit, der die göttliche Ordnung wiederherstellte.
So traf er eines Tages in einer Schenke einen Räuberhauptmann, ein gefürchteter Mann, der mit einer Bande von zwanzig bis dreißig Kumpanen die Gegend unsicher machte. Alle Menschen fürchteten sich vor ihm, doch wenn sie sich ihm gegenüber willfährig verhielten, so war er mitunter bereit Gnade walten zu lassen und ihr Leben zu schonen. Dieser Hauptmann mit Namen Yoshimoto, fand gefallen an dem jungen Miyamoto und nahm ihn in seinem wilden Haufen auf. Die Bande hatte eine höhlenartige Festung in den Bergen mit starken Befestigungsanlagen aufgebaut. Der örtliche Verwalter hatte mit vielen Männern bereits öfters versucht diese Festung zu stürmen, doch jedes Mal erlitten sie eine herbe Niederlage. Yoshimoto und seine Männer waren die wahren Herrn der Gegend und an sie wurden auch die Steuern gezahlt, jeder Wegzoll, jede Gebühr für das Löschen von Waren im Hafen ging an sie. Was aber Miyamoto betrifft, so lernte er hier das raue Handwerk des Krieges. Er zeigte erstaunlich viel Talent für einen Jungen, der nie eine Axt, einen Bogen oder gar ein Schwert in der Hand gehalten hatte. Vor allem das Schwert beherrschte er binnen kurzer Zeit besser als die besten unter den Räubern, selbst den Hauptmann selbst vermochte er damit zu besiegen. Alsbald stieg Miyamoto als Jüngster unter allen Männern zum Stellvertreter Yoshimotos auf. Sie plünderten Städte und Dörfer, überfielen Handwerker, Bauern und vor allem die Kaufleute. Ihre Kriegszüge wurden immer ausgedehnter, die nähere Umgebung war völlig verarmt und bis auf den letzten Sen ausgeplündert worden. Doch die Gier der Räuber kannte keine Grenzen. Der Räuberhauptmann beschaffte sich auch immer mehr Frauen, denen er nach einer erzwungenen Liebesnacht allesamt die Kehlen durchschnitt. Dies war Miyamoto allerdings stets zuwider gewesen. Empfand er auch ansonsten mit keinem Menschen Mitleid, denn auch er selbst tötete eine Menge Menschen ohne mit der Wimper zu zucken, so taten ihm diese Frauen doch leid.
Eines Tages jedoch unterlief der Räuberbande ein gravierender Fehler. Fernab ihres Heimatbezirks belagerten die Männer einen Hohlweg, der sich besonders gut für Überfälle eignete. Die Späher hatten eine überaus reich beladene Kutsche ausgemacht, die nur von wenigen Wachen eskortiert wurde. Alle warteten mit gezückten Messern und dem Brennen der Begierde in den Augen, auf den erhofften reichen Fang. Die Kutsche war ganz aus Gold und wurde von vier schwarzen und weißen Pferden gezogen, eine kleine Eskorte von fünf Mann zu Pferd, alle nur leicht mit Schwertern bewaffnet, begleiteten den Wagen. Auf ein Zeichen Miyamotos hin, sprangen die Räuber zu beiden Seiten des Wagens aus ihren Verstecken und umzingelten die Equipage augenblicklich. Normalerweise hatten sich die Wachen sofort ergeben, in Anbetracht einer derart großen Übermacht, doch in diesem Fall zogen alle fünf ihre Schwerter und begannen sich zu lebhaft wehren. Dabei waren sie überaus stark und geschickt. Mit einem einzigen Streich wurden mehrere Räuber niedergestreckt, es entbrannte ein unerwarteter wilder Kampf. So unglaublich es auch schien, die Räuber gerieten ins Hintertreffen, die fünf Reiter waren ihnen bei Weitem überlegen. Yoshida wurde getötet und nach dem Tod des Anführers verstreute sich die Bande und flüchtete in die Wälder, doch drei Reiter nahmen die Verfolgung auf. Auch Miyamoto rannte so schnell er nur konnte, nie in seinem Leben war er schneller gelaufen. Einer nach dem anderen wurde niedergestreckt, doch Miyamoto war noch schneller, er lief immer tiefer in den Wald hinein, bis es keinen Weg mehr gab und er nur noch sich zwischen den dünnen Stämmen hindurch zwängen konnte. Die Schreie der Männer verstummten allmählich und auch die Reiter schienen die Verfolgung aufgegeben zu haben, Miyamoto war wieder einmal ganz alleine. Trotzdem rannte er noch weiter, eine Anhöhe hinauf und dann hinein in ein finsteres Tal an dessen Sohle sich ein kleiner Bach dahin wand.
Es wurde Abend und die Dunkelheit begann hereinzubrechen, Miyamoto suchte Schutz, fand jedoch nirgends eine Hütte, keinen Verschlag, ja selbst seine Suche nach einer Höhle blieb erfolglos. Also lehnte er sich unter einem Felsvorsprung an und schlief sogleich ein. Er war am Ende seiner Kräfte, hatte Hunger, doch die Müdigkeit hatte endlich obsiegt. Am nächsten Morgen, nachdem er sich im eiskalten Wasser des Baches gewaschen hatte, wanderte er talaufwärts einem hohen Berg entgegen. Er wusste nicht wohin, nur eines war im klar: zurück in die Zivilisation konnte er nicht mehr, dort würde man ihn vor Gericht stellen und als Verbrecher hinrichten lassen. Soviel war gewiss. Als er nun so dem grasigen Ufer des Wassers entlang ging, erkannte er auf der anderen Seite einen großen schwarzen Bären, der gerade dabei war seinen Durst zu stillen. Miyamoto versteckte sich hinter einen Strauch, er hatte nun keine Waffe mehr bei sich. Sein Schwert war im Kampf zurück geblieben und auch seinen Dolch musste er gestern im Laufen verloren haben. So hoffte er, der Bär würde wieder seines Weges gehen. Doch weit gefehlt, dieser kam auf der andern Uferseite auf Miyamotos Höhe herab. Starr vor Schreck blieb Miyamoto nichts andere übrig, als sich so ruhig als irgend möglich zu verhalten. Doch er hatte nicht mit der empfindlichen Nase des Bären gerechnet. Der Bär reckte sein Riechorgan in die Höhe und schien etwas zu wittern. Wie ein Hund konnte er wohl den Angstschweiß Miyamotos wahrnehmen zu können. Dann standen sich die beiden Auge in Auge gegenüber, nur wenige Schritte durch das Wasser getrennt von einander entfernt.
Der Bär sah den jungen Mann mit seinen kohlrabenschwarzen Augen an, fixierte ihn und setze dann zum Sprung über das Wasser an. Miyamoto ergriff die Flucht, rannte die Böschung hinauf in den Wald und durch das dicke Astwerk hindurch. Doch auch der Bär war nicht träge und setzte ihm sogleich heftig nach. `Soll ich auf einen Baum klettern?´, ging es Miyamoto durch den Kopf. Doch die Äste waren viel zu hoch, die Stämme zu glatt, er wäre nie auf einen Baum hinauf gekommen, zudem wäre man vor Bären of einem solchen nicht sicher, denn diese Biester können ja bekanntlich klettern. Miyamoto keuchte vor Erschöpfung, der Bär war nur noch wenige Schritte entfernt und holte rasch auf, fast hatte er ihn schon mit seinen Pratzen zu fassen bekommen. Nun stolperte Miyamoto über eine Wurzel und drehte sich am Boden liegend schnell zur Seite. Der Bär seinerseits bäumte sich auf und wollte mit seinem ganzen Gewicht über ihn herfallen. Plötzlich zischte ein Pfeil durch die Luft und traf den Bären genau ins Herz. Zwei weiter Pfeile erwischten ihn am Kopf. Mit enormer Wucht fiel der Koloss zu Boden, nur zwei Schritt entfernt von dem am Boden erschaudernden Miyamoto.
Ein Mann mit schwarzer Kutte und kahl geschorenem Kopf trat an ihn heran. „Man sollte nicht unbewaffnet durch den Wald gehen“, meinte dieser und half Miyamoto aufzustehen. „Mein Name ist Chiuchi. Wie ist Euer Name?“ Miyamoto war noch völlig perplex, doch als er in das freundlich lächelnde Gesicht des Mannes sah, dessen Alter er nicht bestimmen konnte, antwortete er sich wieder fassend: „Ich bin Miyamoto.“ Chiuchi nahm Miyamoto mit zu seinem Meister, der die Kunst des Schwertkampfes lehrte. Die Schule befand sich auf dem hohen Berg am Ende des Tales und wurde von zwei Dutzend Schülern besucht, die die Vollendung des Schwertweges zu erkennen hofften. Der Meister schien Miyamoto erkannt zu haben, obwohl er ihn vorher noch nie persönlich gesehen hatte. Ohne ein Wort zu sagen, warf er ihm ein Schwert zu und begann mit Miyamoto zu kämpfen. Nun kam es zu einem heftigen Kampf, den der Meister jedoch für sich entscheiden konnte. Dann trat er auf Miyamoto zu, legte seine Hand auf dessen Schulter uns sagte: „Du bist es! Mein ganzes Leben habe ich auf diesem Moment gewartet!“. Dann ließ er ihm ein schwarzes Gewand reichen und schickte ihn mit den anderen Schülern zu seiner neuen Unterkunft. Miyamoto entschloss sich hier Schüler zu werden, trug nun die schwarze Kutte der Schule, und scherte sich den Kopf kahl.
Neben dem Schwertkampf wurde hier vor allem die Beherrschung des Geistes gelehrt. Viele Stunden verbrachten die Schüler täglich in stiller Versenkung, alleine und in Gruppen, wobei auch Mantras und Sutras rezitiert wurden. Der Meister meinte Miyamoto hätte den richtigen Geist, doch müsse er noch geschliffen werden, wie ein roher Diamant. Der neue Schüler war verwundert, dass er vordergründig an seinem Geist arbeiten sollte und weniger als die anderen an de Kunst des Schwertkampfes. Doch der Meister hielt es dennoch für richtig derart vorzugehen. So vergingen fast zwei Jahre, im Winter lag die Schule tief verschneit und von der Welt abgeschnitten, im Sommer hingegen inmitten üppiger Vegetation. Nur äußerst selten verirrte sich ein Besucher in die Schule, die im Grunde genau so gut ein Kloster hätte sein können. Miyamoto hatte seinen Geist geschärft und eine Klarheit erlangt, wie er sie vorher noch nie gekannt hatte, manchmal leuchtet in seinem Geist ein heller Blitz auf und er glaubte seine wahre Natur zu erkennen. Trotzdem quälten ihn immer noch viele Fragen über sich und die Welt. Dem Meister war diese Unruhe schon lange aufgefallen und er gedachte Miyamoto eine Lektion zu erteilen.
Im Frühling, während der Zeit der Kirschblüte, versammelte der Meister wieder einmal alle seine Schüler im Dojo, der Übungshalle, und malte die Zeichen für „Die Kampfkunst verstehen“ mit schwarzer Farbe auf eine weiße Leinwand. Dann holte er einen Krug und stellte ihn in die in Mitte des Raumes. Die Schüler saßen im Rechteck um den Krug herum. Dann sagte der Meister auf den Krug zeigend: „Das ist das Problem!“. Daraufhin setzte er sich wieder auf seine Matte nieder. Die Schüler blickten sich gegenseitig an, ein Raunen ging durch den Saal. So verblieben sie einige Minuten lang. Unvermittelt stand nun Miyamoto auf, zückte sein Schwert, und schlug den Krug mit mehreren Schwerthieben in Stücke. Sein Geist erhellte sich und er sprach die Worte: „Wie seltsam, alle Menschen haben die Natur der vollkommenen Erleuchtung, doch sie wissen es nicht!“ Er ließ das Schwert wieder in die Scheide gleiten und begab sich zurück an seinen Platz. Der Meister lächelte und sagte: „Miyamoto hat verstanden! Miyamoto hat verstanden!“
Nach dieser Begebenheit lud der Meister Miyamoto zu sich in sein Zimmer ein, gebot ihm sich auf das Sitzkissen zu setzen und sagte dann: „Weißt du nun, wer du bist?“. Miyamoto nickte und antwortete: „Ja Meister, ich bin Miyamoto, Schüler der Schwertkunst.“ Der Meister hatte sofort begriffen, dass dies keine leeren Worte mehr waren, sondern eine wahre Erkenntnis, das Ergebnis tiefen Schaues. Der Meister überreichte ihm ein Schwert, das in einer schwarzen Scheide steckte. „Dies ist das Schwert deines Namensvetters, er hat damit so manchen Wettkampf, so manches Duell, ausgetragen und blieb stets siegreich. Dies soll nun dein Schwert sein. Du hast dieses Schwert dein ganzes Leben lang in dir getragen, doch erst jetzt hast du diese tiefe Wahrheit erkannte.“ Miyamoto verbeugte sich und nahm das Schwert mit großer Ehrfurcht an.
Zwei Monate später, an einem wunderschönen Tag im Mai, verschied der Meister und wurde am dem Hügel hinter der Schule begraben. Die Schüler weinten bitterlich und trauerten noch taglang um ihren Meister. Doch Miyamoto sagte: „Brüder, trauert nicht um unseren Meister, der Berg, die Wälder, die Flüsse und Wolken sind unser Meister. Lasst Euch von ihnen unterweisen.“ Der Meister hatte Miyamoto zu seinem Nachfolger bestimmt. Unter ihm blühte die Schule auf und öffnete sich auch den Menschen außerhalb von ihr. Miyamoto gründete Schulen und Waisenhäuser, speiste die Armen und sorgte dafür, dass korrupte Beamte ihrer gerechten Strafe anheim fielen. Ganz besonders aber sorgte er dafür, dass die Wälder der ganzen Gegend von sämtlichen Räubern gesäubert wurden. Dabei ließ er bei Einsicht der Banditen große Gnade walten, doch spürten die uneinsichtigen Übeltäter die ganze Kraft der Gerechtigkeit.
So wurde Miyamoto ein berühmter und überall geachteter Mann, sein Ruf drang weit über die Provinzgrenzen hinaus und selbst der Kaiser in Kyoto wollte diese herausragende Persönlichkeit kennen lernen. Der Kaiser hörte sich die Lebensgeschichte des Schwertmeisters an, die dieser in voller Offenheit darlegte. Der Tenno zeigte sich tief beeindruckt ob des edlen Charakters des Mannes, der für alles Verantwortung zu übernehmen bereit war, und er sprach: „Mag auch noch so viel dunkel über dem Licht liegen, so ist das Vorhandensein des Lichts doch nicht zu leugnen, selbst wenn es nicht zu sehen sein sollte.“
Als Miyamotos Vater starb, erhielt er Kunde davon und begab sich mit seiner jungen Frau und seinem kleinen Sohn zu seines Vaters Haus, um die nötigen Angelegenheiten zu regeln. Er fand einen Brief seines Vaters vor, indem er ihm mitteilte, dass er als Vater sein Bestes getan habe, doch wohl bei vielem gescheitert sei. Er wusste, was der Weg seines Sohnes sei, daher habe er ihn schweren Herzens auf die Reise geschickt, die glücklicherweise dazu geführt hatte, dass er seine Bestimmung gefunden hatte. Der Vater hatte ihm nicht das ganze Erbe ausbezahlt, es war noch viel geblieben, und im Laufe der Jahre war es noch beträchtlich gewachsen. Miyamoto legte den Brief beiseite und trat auf die Veranda zu seiner schönen Frau hinaus. „Hast du gefunden, was du gesucht hast?“, fragte sie ihn dabei zärtliche anblickend. Darauf sprach er: „Der Junge ist tot, es lebe der Mann!“

Donnerstag, 18. Februar 2010